Boy Nobody: Ich bin dein Freund. Ich bin dein Mörder. (German Edition)
zum letzten Mal gesehen habe. Ich habe keine Ahnung, wo sie jetzt ist.
Selbst hier in dieser Zombie-Welt entzieht sie sich mir. Ich rede mit mir selbst, mit der Luft, mit den Toten, mit dem grauen Himmel.
»Du willst uns besuchen?«
»Ist es so ungewöhnlich, dass ich meine Eltern besuchen will?«
»Das wolltest du noch nie.«
Ich schaue auf die brennende Landschaft rings um mich herum.
Leer. Völlig menschenleer.
»Vielleicht hat sich ja was geändert«, sage ich.
Sie schweigt. An einem verlassenen Haus klappert ein loser Fensterladen.
»Ich mache mir Sorgen um dich«, sagt sie schließlich. »Du bist durcheinander. Ich fürchte, du bist der Sache nicht gewachsen. Vielleicht sollten wir dich aus der Schule nehmen.«
Ich bin zu weit gegangen. Die Art meiner Fragen, mein unprofessionelles Anliegen.
Ich habe Schwäche gezeigt. Und jetzt bin ich in Gefahr. Ich spüre es.
»Nein«, antworte ich, ein wenig zu schnell.
Ich atme tief ein und füge mit fester Stimme hinzu: »Ich will die Sache zu Ende bringen. So wie immer.«
»Verstehe.«
»Du hast selbst gesagt, dass du mich kennst. Du weißt, was ich kann.«
Sie schweigt wieder.
»Dein Auftrag hat sich geändert. Es gibt ein neues Zielobjekt.«
»Was?« Ein neues Zielobjekt? Mitten in einem Job? Das hat’s noch nie gegeben.
»Es ist die Tochter.«
»Sam?«
»Ja.«
»Und was ist mit dem Bürgermeister?«
»Das hat sich erledigt.«
Mich packt kalte Wut. Schluss mit dem Herumgerenne. Ich tausche das Sturmgewehr gegen ein M40A 5-Scharfschützengewehr aus.
»Kriegst du das hin?«, fragt Mutter.
Meine Gedanken überschlagen sich. Ich beiße mir auf die Innenseite meiner Lippe, bis ich Blut schmecke. Ich nutze den Schmerz, um mich ganz auf den Laserpunkt vor meinen Augen zu konzentrieren.
»Ich kriege alles hin.«
Da. Oben auf dem Hügel hinter dem verlassenen Krankenhaus. Da blitzt etwas auf.
Leuchtende grüne Augen. Wie Katzenaugen bei Nacht.
»Falls du Zweifel oder Bedenken hast, schieb sie einfach beiseite«, sagt Mutter.
Ich schaue durchs Zielfernrohr.
»Dir bleibt nicht viel Zeit. Nimm dein Handy und ruf das Mädchen an.«
»Mutter … « Ich beiße mir auf die Zunge. Nein, ich habe ohnehin schon zu viel gesagt.
Stattdessen suche ich sie mit dem Zielfernrohr.
»Erledige deinen Auftrag und dann können wir über einen Besuch reden.«
Ein klickendes Geräusch.
»Ich glaube an dich.« Ihre Stimme wird immer leiser.
Ich reiße das Gewehr herum und ziele auf die Stelle, wo die grünen Augen waren.
Aber sie sind weg.
Ich versuche Sam zu erreichen.
Aber jedes Mal springt die Mailbox an. Zweimal. Dreimal.
Dieser Job ist ein Test. Hat Vater gesagt.
Ich dachte, es ginge um meine taktischen Fähigkeiten. Aber jetzt frage ich mich, ob er nicht was ganz anderes gemeint hat.
Zuverlässigkeit. Loyalität.
Aber das wäre doch absurd. Zwei Jahre Ausbildung und sechs erfolgreiche Missionen sind schließlich Beweis genug für meine Loyalität.
Es sei denn …
Es sei denn, sie haben Gründe, an meiner Loyalität zu zweifeln.
Ist es das, worum es Mutter geht? Hat sie das Zielobjekt geändert, um mich auf die Probe zu stellen?
Ich habe noch nie erlebt, dass sie etwas aus Bosheit getan hat. Wenn sie je grausam zu mir war, dann nur, damit ich härter wurde. Das gehörte zu meiner Ausbildung.
Vielleicht sollte ich mich an Ockhams Ökonomieprinzip halten. Danach ist die einfachste Erklärung immer die plausibelste.
In meinem Fall wäre die einfachste Erklärung: Es ist nur eine geänderte Zielvorgabe. Weiter nichts.
Was bedeuten würde, dass Sam in irgendwas verstrickt ist.
Aber das kann nicht sein. Was könnte Sam getan haben, um ins Visier des Programms zu geraten? Die Aufgabe des Programmsist es, Feinde der Vereinigten Staaten aufzuspüren und zu liquidieren. Und keine Mädchen, die ihre Mütter verloren haben. Keine Mädchen, die wegen der beruflichen Entscheidungen ihrer Väter in irgendwelche politischen Machtkämpfe hineingezogen werden.
Der Bürgermeister. Er war das ursprüngliche Zielobjekt.
Wenn ich beweisen kann, dass er derjenige ist, der etwas auf dem Kerbholz hat, dann wäre Sam aus dem Schneider. Und ihr Vater wäre wieder das Zielobjekt.
Ich wähle noch mal Sams Nummer. Und zum vierten Mal meldet sich die Mailbox. Diesmal hinterlasse ich eine Nachricht: »Ich muss mit dir reden. Ruf mich an, sobald du diese Nachricht abhörst.«
Es ist 23 Uhr.
Ich laufe im Wohnzimmer auf und ab. Überlege fieberhaft, wie ich
Weitere Kostenlose Bücher