Boys Dont Cry
Rache.
Endlich zu Hause wollte ich nur noch ins Bett fallen und traumlos schlafen. Obwohl ich auf Zehenspitzen in mein Zimmer schlich, wurde Emma durch irgendetwas gestört und wachte auf. Ich seufzte innerlich, als sie sich am Bettrand hochzog. Heute Nacht hätte ich wirklich gut ohne Emmas Zahnungsprobleme auskommen können.
»Schlaf weiter, Emma.« Ich versuchte sie dazu zu bewegen, sich wieder hinzulegen, aber sie wollte partout nicht. Ich seufzte. »Bitte, Emma, bitte schlaf weiter.«
Emma streckte die Ärmchen aus, damit ich sie hochnahm. Und ich gab nach. Ein Königreich für ein bisschen Ruhe. Ich setzte mich aufs Bett, Emma auf dem Arm, die zufrieden ihren Kopf an meine Schulter schmiegte. Wie ich sie beneidete. Für sie war die Welt so viel mehr in Ordnung als für mich.
»Dada …«, sagte Emma.
Ich erstarrte. »Was hast du gesagt?«, flüsterte ich und hob sie hoch, damit wir auf gleicher Augenhöhe waren.
»Dada«, wiederholte sie.
»Wer ist dein Daddy?«, fragte ich sie. Als mir klar wurde, was ich da von mir gegeben hatte, musste ich lachen.
Emma drückte einen Finger an meine Wange. »Dada …«
Ich sprang auf und rannte mit Emma auf dem Arm in Dads Zimmer. Dort knipste ich das Licht an und trat an sein Bett.
»Dad! Dad!«
Dad fuhr auf und blinzelte mit verschlafenen Augen. »Was ist denn? Ist was mit Emma?«
»Hör dir das an«, sagte ich. »Sag es noch mal, Emma!«
Emma blieb stumm. Dad runzelte die Stirn. Er sah mich an, als hätte ich den Verstand verloren.
»Wer bin ich, Emma? Sag Opa, wer ich bin«, lockte ich sie.
»Dada!« Emma kicherte, und ich lachte laut heraus. Sie hatte es wieder gesagt. Und sie meinte wirklich mich! Ich wirbelte Emma herum, schwang sie hoch in die Luft und strahlte sie von unten an, während sie zu mir hinuntergluckste.
»Hast du das gehört, Dad? Sie hat ›Dada‹ gesagt.«
»Das ist toll. Gut gemacht, Emma. Jetzt verpiss dich, Dante. Es ist ein Uhr morgens«, knurrte Dad und sank zurück aufs Kissen, die Augen geschlossen, einen gequälten Ausdruck im Gesicht.
»Dad, könntest du vor Emma bitte mehr auf deine Worte achten?«
Dad öffnete die Augen und bedachte mich mit einem finsteren Blick. »Mach. Die. Fliege.«
»Aber Dad …«
Nun durchbohrte er mich mit seinem gefürchteten Laserblick. Es war sein bitterer Ernst! Immer noch vor mich hin grinsend verließ ich sein Schlafzimmer.
»Das stimmt, Emma«, sagte ich zu meiner Tochter, als ich sie zurück in ihr Bettchen legte. »Ich bin dein Daddy. Und Daddy hat dich sehr, sehr lieb.«
42 DANTE
Nicht nur ich machte mir Sorgen um Adam. Der Draht in seinem Kiefer und auch der Verband um seinen Kopf waren längst entfernt, trotzdem kapselte sich mein Bruder weiter ab. Er blieb die ganze Zeit in seinem Zimmer und redete kaum ein Wort. Wenn Adam etwas aß – weil Dad darauf bestand oder ich ihm keine Ruhe ließ –, tat er es stets allein auf seinem Zimmer. Nach unten kam er nur äußerst selten, und als die Nachbehandlungen im Krankenhaus abgeschlossen waren, ging er überhaupt nicht mehr aus dem Haus. Wenn Freunde – männliche wie weibliche – ihn besuchen wollten, mussten wir sie abwimmeln. Nach zwei oder drei vergeblichen Versuchen gaben sie es auf.
Adams linke Gesichtshälfte war fast wieder normal, aber die rechte sah aus wie nach einem Schlaganfall. Auf dem rechten Auge, das immer noch deutlich nach unten hing, hatte er die Hälfte seiner Sehkraft eingebüßt. Über die rechte Schläfe verlief eine Narbe, die Haut der rechten Wange war fleckig und wies diverse Einstichmale auf, wo man sie hatte zusammenflicken müssen. Die Fäden waren längst gezogen, aber die Narben brauchten noch eine Weile, bis sie verblassten.
Und Adam weigerte sich beharrlich, Emma zu sehen, und wollte auch nicht, dass sie ihn sah.
In den vergangenen zwei Monaten war er bei genau zwei Gelegenheiten aus seiner Erstarrung erwacht, beide Male, weil Emma sein Zimmer betreten wollte. Er rief nach mir und schrie Emma an, sie solle rausgehen. Und dabei kehrte er Emma und mir die ganze Zeit den Rücken zu. Emma hatte beide Male bitterlich geweint, was mich ehrlich gesagt ziemlich geärgert hatte. Aber ich konnte mich gerade noch im Zaum halten. Gerade noch.
»Es ist wirklich nicht nötig, sie dermaßen anzuschreien«, hatte ich gesagt. »Sie wollte nur ihren Onkel besuchen. Du fehlst ihr.«
»Du solltest mir dankbar sein«, hatte Adam erwidert, immer noch mit dem Rücken zu uns. »Jetzt kriegt sie wenigstens keine
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