Bragg 04 - Dunkles Verlangen
Zwischen zwei und halb drei Uhr kam er zum Mittagessen nach Hause, verbrachte den Nachmittag in der Bibliothek und erledigte dort geschäftliche und private Dinge. Das Abendessen wurde um acht Uhr serviert. Häufig nahm er vorher noch einen Whiskey, nie einen Brandy. An manchen Abenden zog er sich hinterher ganz zurück, bisweilen ging er aber auch noch aus.
Molly wusste einfach alles. So erfuhr Jane von ihr, dass der Earl nicht etwa Engländer, sondern Amerikaner war. Seine Mutter war die Tochter des alten Earls und hatte einen Rancher in Texas geheiratet. Dort war der Earl auch aufgewachsen. Im Alter von einundzwanzig Jahren war er nach England gekommen, um in Dragmore sein Erbe anzutreten, und hatte pflichtschuldig Patricia Weston geheiratet. Diese Patricia war das einzige Kind des ältesten Sohnes des Herzogs gewesen. Noch bevor der alte Herzog selbst seinem hohen Alter erlegen war, hatte Patricias Vater einen tödlichen Jagdunfall gehabt. Sie war Janes Cousine, obwohl die zwei sich noch nie gesehen hatten. Mit Patricia war die offizielle Linie der Westons ausgestorben. Es war deshalb geplant, dass Chad später einmal den Titel des Herzogs und dessen Güter übernehmen sollte. Nach allem, was Jane in Erfahrung bringen konnte, war Patricia eine blonde grünäugige Schönheit gewesen, die in den Kreisen des Hochadels jeden Mann hätte haben können. Sie hatte sich jedoch für den Earl von Dragmore entschieden. Offenbar eine Liebesheirat, dachte Jane.
Ein Jahr nach Chads Geburt hatte Patricia Nick verlassen und war mit einem Liebhaber durchgebrannt. Molly zufolge hatte sie sogar Angst gehabt, dass ihr Mann sie wegen ihrer Untreue umbringen würde. Nick hatte die beiden tatsächlich verfolgt und Patricias Geliebten, den Earl von Boltham, zum Duell gefordert. Dabei hatte Boltham so schwere Verletzungen davongetragen, dass er immer noch hinkte.
»Nach dieser Geschichte hat er seine Frau regelrecht gehasst«, sagte Molly. »ja, gehasst. Er hat sie eingesperrt und sie nicht mehr aus Dragmore weggelassen. Und geschlagen hat er sie auch. Sogar vergewaltigt.«
»Molly«, gab Jane zu bedenken. »Das ist doch alles nur Klatsch – und ich finde es nicht nett von dir, dass du so böse Dinge über Seine Lordschaft verbreitest.«
»Aber es stimmt doch«, rief Molly. »Ihr könnt mir glauben, Mylady, ich kenne den Mann. Der nimmt sich, was er will – wenn Ihr versteht …« Sie sah Jane zwinkernd an.
Jane verstand ganz genau. Allerdings hatte sie keinerlei Verlangen danach, sich vorzustellen, wie der Earl mit Molly anstellte, was er wollte. Außerdem weigerte sie sich strikt, daran zu glauben, dass er seine arme, verfolgte Frau vergewaltigt hatte.
Molly zuckte mit den Achseln. »Egal. Irgendwann hat er dann genug von ihr gehabt und das Haus angezündet. Dabei ist sie ums Leben gekommen«
»Aber das Gericht hat ihn doch freigesprochen«, sagte Jane.
»Man konnte ihm zwar nicht beweisen, dass es Mord war«, entgegnete Molly. »Aber er wollte sie wirklich umbringen, das hat er doch oft genug gesagt. Und der Richter hat auch gesagt, dass es Brandstiftung war. Und wenn es Seine Lordschaft nicht war, wer dann?«
»Bist du sicher, dass das Gericht Brandstiftung festgestellt hat?«
Molly nickte. »Fragt doch Thomas. Der weiß Bescheid. Falls er etwas sagt.«
»Und wieso hat man ihn dann nicht verurteilt?« Jane wurde allmählich ungehalten.
»Er konnte ein Alibi vorweisen.« Molly grinste hämisch. »Angeblich war er die ganze Nacht mit einer Hure zusammen. Die Frau hat für ihn ausgesagt. Eine berühmte Londoner Halbweltdame. Aber jeder weiß doch, wie leicht man diese Flittchen kaufen kann, Mylady.«
Dass er sich mit einer Prostituierten abgegeben hatte, war Jane ziemlich egal. Sie kehrte Molly den Rücken zu und ärgerte sich darüber, dass sie sich mit dem verknallten Dienstmädchen auf ein solches Gespräch eingelassen hatte. Alles bloß Gerüchte und haltlose Spekulationen.
Ob er seine Frau tatsächlich umgebracht hatte?
Sie konnte und wollte es nicht glauben.
Inzwischen war es Viertel nach zwei, und der Earl war immer noch nicht zurück. Unten in der Halle blieb Jane vor einem Spiegel stehen. Ihr Gesicht hatte eine gesunde Farbe. Ihre Augen waren strahlend blau. Doch musste sie zu ihrem Entsetzen feststellen, dass sie auch in dem hochgeschlossenen blau gestreiften Kleid wie ein Schulmädchen aussah. Ob sie nicht doch eine Krinoline tragen sollte? Auch der Zopf musste unbedingt verschwinden. Und dann sah sie im
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