Bragg 04 - Dunkles Verlangen
Problem türmte sich vor ihm auf wie eine mächtige Steinmauer vor seinem irischen Jagdpferd. Aber wie zum Teufel sollte er nur einen passenden Ehemann für sie finden? Schließlich hatte er sich seit dem Mordprozess völlig aus der Gesellschaft zurückgezogen.
Plötzlich empfand er nur noch eines: Angst und Not.
Doch mit eiserner Selbstbeherrschung verbannte er diese Gefühle tief in sein Inneres.
Kapitel 6
Jane brachte die ganze Nacht kein Auge zu. Sie wälzte sich verzweifelt und wütend hin und her. Nein, ihre Träume ließ sie sich von niemandem zerstören. Sie wusste aber auch: Der Earl war so wenig zu erweichen wie ein Stein. Immer wieder dachte sie an das Gespräch zurück. Wortfetzen, über die sich Bilder schoben. Zugleich sah sie den Earl vor sich, dunkel und bedrohlich. In seinem muskelgestählten Körper nicht ein Funke Mitgefühl. Seine silbernen Augen waren so kalt wie Eis. Wenn sie nicht auf der Hut war, konnte es ihr passieren, dass ihr bis zu ihrer Hochzeit keine vierzehn Tage mehr blieben.
Inzwischen kannte sie ihn ein wenig, hatte mehrmals die Wut aufflackern sehen, die in ihm rumorte. Deshalb konnte sie nicht mehr ganz ausschließen, dass die Gerüchte womöglich doch einen wahren Kern hatten: dass er seine Frau wirklich umgebracht hatte. Solche Gerüchte hatten ja meist einen wahren Kern. Und hatte er etwa nicht wegen Mordes vor Gericht gestanden? Hatten die Zeitungen etwa nicht eine ganze Woche lang mit schreienden Schlagzeilen über den Prozess gegen den Earl von Dragmore berichtet? Das alles lag erst dreieinhalb Jahre zurück. Auch Jane selbst hatte damals so manche Schlagzeile aufgeschnappt. Matilda und der Pfarrer hatten eine ganze Woche darüber gestritten, ob er nun schuldig oder unschuldig war. Für Matilda war von vornherein klar gewesen: schuldig, und der Pfarrer hatte schließlich klein beigegeben. Dann der Freispruch für den Earl, und seither hatte er einen neuen Namen: Herr der Finsternis.
Dann musste sie plötzlich wieder an seine Hände denken.
Sie sah sie deutlich vor sich: riesige kraftvolle Hände – Hände, die töten konnten. Andererseits: Wie konnten Mörderhände nur so zärtlich über das Haar eines kleinen Jungen streichen? Jane fiel wieder ein, wie liebevoll Nick seinen kleinen Sohn Chad erst wenige Stunden zuvor behandelt hatte. Keine Spur von Aggressivität, nur Zärtlichkeit, nichts als Zärtlichkeit …
Jane hoffte, dass er seine Frau nicht ermordet hatte. Wenn sie sich doch die Einzelheiten des Verfahrens damals nur besser eingeprägt hätte. Aber sie war ja erst vierzehn gewesen, und sie hatte nur im Vorbeigehen die Schlagzeilen gelesen und gehört, wie Matilda und der Pfarrer herumgestritten hatten.
Irgendwann schlief sie ein und fing an zu träumen. Doch nicht etwa von Mord und Totschlag. Nein, sie träumte von einer großen starken Hand, die zärtlich über Chads Kopf strich. Nur war das Haar in ihrem Traum nicht braun, sondern blond. Und dann spürte sie seine sehnige Hand auf ihrem Kopf. Seine warme pulsierende Hand, die zärtlich ihren Nacken massierte. Dann betastete die Hand ihre Schulter, streichelte ihren Arm … Was für ein unbeschreibliches Gefühl! Sie erwachte, dehnte und streckte sich wohlig wie eine Katze, wieder und wieder. Auf ihrem Gesicht lag ein Lächeln. Die Spitzen ihrer vollen straffen Brüste rieben sich vorne an ihrem Negligee. Jane wollte nicht aufwachen. Sie berührte ihre Brüste, streichelte sie sanft, begrub sie mit ihren Händen. Und dann glitt ihre Hand wie von selbst weiter nach unten, hielt auf ihrem Bauch inne. Das Negligee hatte sich um ihre weit geöffneten Schenkel gewickelt. Und dann wurde ihr schlagartig klar, dass sie von ihm geträumt hatte, seinen Liebkosungen, und sie errötete. Und trotzdem war ihr alles so echt erschienen.
Nein, so etwas durfte sie nie wieder träumen!
Wie gut, dass er ihre Gedanken nicht lesen konnte!
Jane hüpfte aus dem Bett, wusch sich und zog ein schlichtes, blau gestreiftes Kleid an. Hätte sie doch bloß ihre Krinoline mitgebracht! Obwohl sie das Drahtgestell nie hatte leiden können. Im Pfarrhaus hatte sie sich sogar strikt geweigert, einen Reifrock anzuziehen. Ob er von ihr erwartete, dass sie auch das Frühstück im Kindertrakt einnahm? Sie war siebzehn, nicht sechs. Nein, das kam gar nicht in Frage, auch wenn er sie vielleicht noch für ein Kind hielt. Sie ging leise die Treppe hinunter und blieb unschlüssig vor der Tür zum Frühstücksraum stehen. Dann nahm sie sich
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