Bragg 04 - Dunkles Verlangen
schrie er in die Nacht hinaus. Dann drehte er sich um und rannte davon.
Jane schaffte es irgendwie, sich in ihr Zimmer zu schleppen. Ihr Kleid starrte vor Schmutz, ihr Haar war ein einziges Chaos. Sie ließ sich dankbar auf das Bett fallen. Noch immer schlug ihr Herz wie wild. Sie legte die Hand auf die Brust, hoffte, es zu beruhigen. Sie war verliebt.
Doch dieses Gefühl wurde nicht nur von Glücksgefühlen begleitet, sondern auch von Schmerzen.
Niemals würde sie den Kuss vergessen und das Feuer, das er in ihr entzündet hatte. Niemals. »Nicholas, ich liebe dich«, flüsterte sie und fing an zu weinen.
Sie liebte ihn, nur leider liebte er sie nicht. So naiv sie auch sein mochte, so viel war klar: Er hatte sie nur geküsst, weil er wütend gewesen war. Nur aus Wut, und dann hatte der Kuss eine Art Eigenleben entwickelt.
Aber andererseits: Warum war er dann so eifersüchtig gewesen?
Jane war sich nicht sicher. Was den Earl betraf, traute sie sich ein Urteil nicht zu. Er war so ein undurchschaubarer, komplizierter Mensch. Und wie alle Männer konnte er mit einer Frau Zärtlichkeiten austauschen, ohne sie wirklich zu lieben.
Eine zweite Amelia wollte Jane unter gar keinen Umständen für ihn sein.
Sie wollte seine Frau sein.
Sie erwog diesen Gedanken ganz nüchtern und realistisch. War daran überhaupt zu denken? Sie wusste nur zu gut, dass die Vorstellung eigentlich völlig absurd war. Sie war sich ganz sicher, dass der Earl nicht mal im Traum daran dachte, zu heiraten. Das spürte sie genau. Und selbst wenn er sich verlieben und heiraten sollte – warum ausgerechnet sie? Es gab noch andere schöne Frauen auf der Welt, viele sogar, und der Earl war eine glänzende Partie.
Aber sollte sie sich deshalb mit Brosamen zufrieden geben?
Sollte sie sich etwa damit abfinden, seine Mätresse zu sein?
Jane war sich nicht sicher. Sie wusste nur, dass sie ihn liebte, und zwar so sehr, dass es schon wehtat. Sie wusste nur, dass sie ihn unbedingt wollte, ihn in den Armen halten, ihn liebkosen, ihn zum Lachen bringen. Und sie wollte, dass er sie wieder in die Arme nahm …
Die Erinnerung an ihren leidenschaftlichen Kuss brachte ihr Blut in Wallung – und schürte gleichzeitig ihre Verzweiflung. Er hatte so wenige Freunde. Vielleicht war Lindley sogar der einzige. Was hatte sie da nur wieder angerichtet? Sie hatte die Freundschaft der beiden Männer zerstört. Oh, wie leid ihr das alles tat. Wenn sie das gewusst hätte, wenn sie nicht so furchtbar impulsiv, so rücksichtslos gewesen wäre, hätte sie sich Lindley gegenüber deutlich mehr Zurückhaltung auferlegt. Jane klammerte sich an ihr Kissen. Sie musste irgendwie dafür sorgen, dass die beiden Männer sich wieder versöhnten. Oh Gott!
»Nicholas, verzeih mir«, flüsterte sie.
Der Earl blieb abrupt mitten in der Bibliothek stehen. Er hörte das Knirschen der Räder auf dem Kiesweg. Er blickte zum Fenster und sah im Licht der Gaslampen, wie Lindleys Kutsche die Auffahrt hinunterrollte. Für den Bruchteil einer Sekunde hatte er den Impuls, ins Freie zu rennen und ihn aufzuhalten. Doch dann besann er sich eines Besseren. Er spürte den Schmerz noch immer und massierte seine Brust, um sich Erleichterung zu verschaffen.
Oh Gott.
Er ließ sich schwer auf die Couch fallen und den Kopf nach vorne sinken. Lindley hatte ihn verraten, auch wenn Jane ihn vielleicht provoziert hatte. Lindley war schließlich erwachsen und musste es eigentlich besser wissen. ja, sein Freund hatte ihn betrogen. Sein bester Freund, sein einziger Freund. Der Mann, der ihm während des elenden Prozesses und in den schweren Jahren seither stets zur Seite gestanden hatte. »Blöder Mistkerl«, schrie Nick in der Stille der Bibliothek. »Du elender Verräter!«
Er verdammte sich selbst.
Er dachte an Jane.
Jane, die direkt vor seinen Augen ihre Sexualität entdeckte, und mein Gott: wie attraktiv und verlockend und gefährlich das alles war.
Er ballte die Fäuste. Sie war in ihn verknallt gewesen, bis Lindley aufgekreuzt war. Dann war sie auf Raversford geflogen. Sie war ein leicht zu beeindruckendes junges Ding. Sonst nichts. Wer wohl der Nächste sein würde? Am besten, dachte er verzweifelt, der Mann, mit dem er sie ohnehin verheiraten wollte!
Er musste sie im Auge behalten. Er musste sie beaufsichtigen. Er konnte ihr nicht trauen, nicht nach allem, was an diesem Abend geschehen war. Sie hatte Lindley buchstäblich gebeten, sie zu küssen. Sie war ein Flittchen. Ein ausgekochtes
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