Bragg 04 - Dunkles Verlangen
sich verführerisch an ihren Körper schmiegte. Wie schrecklich die Menschen sein konnten. Bis dahin hatte sie nicht einmal geahnt, wie viel Grausamkeit es in der Welt gab. Mochte sich der Earl nach außen hin auch unbeeindruckt geben, alles nur Selbstschutz.
Ob ihm diese Beleidigungen sehr nahe gingen? Ob er verzweifelt war? Sie wusste genau, dass er einsam war und sich nach Wärme und Liebe sehnte. Wie gerne hätte sie ihm gegeben, wonach er sich so sehr sehnte.
Fast hätte sie angefangen, um ihn zu weinen.
Sie blickte sich um und sah zur Tür. Es war zwar schon spät, doch sie war sicher, dass er noch nicht schlief. Nach der Party war er direkt in die Bibliothek gegangen, nicht einmal eine gute Nacht hatte er ihr gewünscht. Möglich, dass er noch dort war. Ob sie ihn dazu bringen konnte, mit einem Menschen zu reden, der ihm von Herzen zugetan war?
Jane konnte nicht anders: Sie musste nachsehen, ob mit dem Earl alles in Ordnung war.
Sie streifte einen leichten Hausmantel über, wickelte sich eng darin ein und trat in die Halle hinaus. Im Haus war alles dunkel, ringsum herrschte eine fast unheimliche Stille. Jane war nervös. Sie kannte sich in dem Londoner Haus noch nicht so gut aus wie in Dragmore. Trotzdem hatte sie Nicks Arbeitszimmer bald gefunden. Aus der nicht ganz geschlossenen Tür drang ein Lichtstrahl nach draußen. Dann war er also noch in dem Zimmer. Jane stieß die Tür auf.
Er war tatsächlich dort gewesen. In dem Raum war zwar alles still, doch es hing noch der Geruch von Zigarrenrauch in der Luft. Vor dem Sofa standen eine leere Karaffe und ein leeres Glas auf dem Boden. Auch sein schwarzer Frackrock lag am Boden, die Schleife hing an einem Stuhl. Die Flügeltür, die in den Innenhof hinausführte, stand offen. Jane ging durch den Raum und machte sie zu. Dann löschte sie das Licht und trat wieder in die Halle hinaus.
Sie war enttäuscht. Also war er schon ins Bett gegangen.
Plötzlich war ihr alles egal. Sie wollte ihn unbedingt sehen – unbedingt .
Die Räume des Earls befanden sich auf der anderen Seite des Gebäudes im ersten Stock, das wusste sie. Jane ging vorsichtig durch das dunkle Haus. Sie betete, dass ihr unterwegs kein Bediensteter begegnete, legte sich jedoch für alle Fälle schon ein paar Ausreden zurecht. Doch gottlob kam niemand. Bis dahin war sie noch nie in diesem Flügel des Hauses gewesen. Deshalb wusste sie nicht genau, wo sich die Räume des Earls befanden. Doch dann sah sie Licht und wusste Bescheid.
Die Tür zu seinem Wohnzimmer stand weit offen. Jane ging leise hinein und musste sich zuerst an das Licht gewöhnen. Er war nicht in dem Raum, aber sie roch Zigarrenrauch und außerdem Whiskey. Dann entdeckte sie ein halb volles Glas auf einem Beistelltisch neben dem Sessel.
Und nun tat sie etwas, was sie als anständige Frau eigentlich unter gar keinen Umständen hätte tun dürfen.
Jane klopfte an die Tür seines Schlafzimmers. Keine Antwort. Obwohl die Tür geschlossen war, meinte sie unten auf dem Fußboden einen Lichtschimmer zu erkennen. Kühn klopfte sie ein weiteres Mal. Wieder nichts.
Sie öffnete die Tür.
Er lag – bis zur Taille zugedeckt – rücklings auf dem Bett. Einen Arm hatte er in Augenhöhe quer über den Kopf gelegt, als ob er sich vor dem schwachen Licht der Lampe schützen wollte, die auf seinem Nachttisch stand. Er schlief.
Jane fühlte sich unwiderstehlich von ihm angezogen.
Er war schön.
Sie blieb neben ihm stehen – konnte den Blick nicht mehr von ihm abwenden – und betrachtete ihn glücklich. Auf seinem Gesicht waren selbst im Schlaf die Sorgen und Schmerzen zu erkennen, die ihn umtrieben. Er wälzte sich. unruhig hin und her und stöhnte zwischendurch.
»Oh, Nicholas, Liebling«, flüsterte sie und fuhr mit der Hand durch sein Haar. »Schlaf gut, mein Liebling, schlaf, alles wird wieder gut.«
Plötzlich lag er völlig reglos da. Jane erschrak, weil sie schon glaubte, dass sie ihn geweckt hätte, doch dann seufzte er nur und wirkte plötzlich ganz entspannt. Sie streichelte unermüdlich sein volles schwarzes Haar und liebkoste ihn.
Dabei betrachtete sie ganz ungeniert seinen bloßen Oberkörper. Er war ein groß gewachsener, starker Mann und hatte die mächtigen Schultern, die Brust und die Arme eines Zimmermanns oder eines Holzfällers. Seine Muskeln und seine kräftigen Sehnen erschienen wir gemeißelt. Und das alles ohne ein Gramm Fett. Auf seiner Brust wuchsen feine dunkle Haare, die sich in einem breiten Band nach
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