Brahmsrösi: Fellers zweiter Fall
ungeachtet muss die Wahrheit an den Tag. Sonst hat unsere Beziehung keine Zukunft.
»Ellen, warst du es, die sich im Hotel Planty nach uns erkundigt hat?«
Die Angesprochene reagiert völlig gefasst. »Ja klar. Ich dachte, wir könnten uns zur Recherche allenfalls zusammentun. Leider haben wir uns verpasst. Darauf seid ihr überstürzt abgereist. Warum eigentlich?«
»Wegen einer dummen Geschichte«, deute ich an.
»Bist du in Polen etwa auch ausgeraubt worden?«, fragt Ellen, offenbar als Witz.
»Schlimmer. Ich wurde beinahe von einem Auto überfahren.«
Sie missversteht mich. »Ach so. Stimmt. Ziemlich hektisch, der Verkehr dort.«
»Nein. Nicht so«, entgegne ich. »Ein Autofahrer hat absichtlich versucht, mich unter die Räder zu kriegen.«
»Das glaube ich nicht«, zweifelt Ellen an meiner Aussage. »Wozu? Warst du je zuvor in Polen?«
»Nein, aber …«
»Du kennst dort keinen. Keiner kennt dich. Wer sollte dir also nach dem Leben trachten?«
»Die Besitzer der demolierten Fahrräder sind bestimmt anderer Meinung. Das Auto hat mich nur knapp verfehlt. Stattdessen ist es in eine Versammlung abgestellter Zweiräder geprescht«, wende ich ein.
»Was du immer für Storys erlebst«, sagt sie, ohne mir offenbar Glauben zu schenken. Vielmehr interessiert sie sich für meine Recherchen in der Bibliothek. »Welches Urteil hast du eigentlich bezüglich der Sonate gefällt?«
Ich akzeptiere den Themawechsel. Bereitwillig gebe ich Auskunft. »Ich neige zu der Annahme, dass alle Blätter echt sind.«
»Aufgrund welcher Fakten?«, will sie wissen.
Jetzt zögere ich und frage zurück. »Zu welcher Einschätzung bist du selbst gelangt?«
»Es handelt sich um Fälschungen«, gibt sie ohne Umschweife an.
Ihre widersprüchliche Beurteilung macht mich für einen Augenblick sprachlos. War das soeben ihre ehrliche Meinung oder nur ein taktisches Manöver?
Sie fährt fort: »Zudem sind die musikalischen Unterschiede zwischen Drucknoten und Manuskript zu gering, als dass sich eine Neueinspielung lohnen würde.«
Bevor ich weitere Fragen stelle, erhebt sich Ellen mit der Entschuldigung, dass sie fröstle.
»So lass uns hinein wechseln«, schlage ich vor. »Unser Gastgeber hat inzwischen ein gemütliches Feuerchen entfacht.«
»Nein. Ich werde mich jetzt verabschieden. Wenn du mir einen Gefallen tun willst, Hanspeter, dann rufst du mir ein Taxi. Ich habe seit zwei Tagen nämlich mein Handy verlegt.«
»Du fährst selbst nicht Auto?«, bitte ich sie erwartungsvoll um Antwort.
»Das habe ich verpasst. In meinem Alter noch den Fahrausweis nachzuholen, traue ich mich nicht. Es verstopfen ohnehin schon zu viele Autos die Straßen. Da sollte man eigentlich um alle froh sein, die sich nicht zusätzlich motorisieren.«
»Du sprichst mir aus der Seele, Ellen.« Ich bin unglaublich erleichtert. Mit ihrem Statement ist völlig ausgeschlossen, dass sie in Krakau hinter dem Steuer saß.
Ellen fragt jedenfalls leichthin: »Warum? Besitzt du auch keinen Wagen?«
»Nein. Nur ein Töffli.«
»Wie vernünftig«, meint sie.
Ich strahle sie dankbar an und schöpfe wieder Hoffnung auf eine Vertiefung unserer Begegnung. Bereits sehe ich in Gedanken Ellen auf dem Gepäckträger meines Mofas sitzen. Ich gebe Vollgas. Ihr weißer Schalkragen weht im Fahrtwind. Dazu summt sie mir eine liebliche Melodie ins Ohr. Ein Brahmslied natürlich: ›Wie Melodien zieht es mir leise durch den Sinn …‹
Gemeinsam fahren wir dem erröteten Alpenfirn entgegen. Oder doch nur dem ewigen Eis einer erstarrten Ehe? Vielleicht werde ich es nochmals überdenken, das mit der gemeinsamen Zukunft.
26
Jüre kehrt in die grüne Villa zurück und berichtet. »Uff. Das war knapp, Hanspudi«, keucht er. Dazu fährt er sich mit dem Hemdsärmel über die Stirn.
»Hast du die Noten?«, frage ich erwartungsvoll.
Tatsächlich holt Jüre eine hellbraune Ledermappe hinter seinem Rücken hervor. »Voilà!«
Sofort erkenne ich das Ding wieder. Es handelt sich zweifelsfrei um den Schutzumschlag, in dem mir Auf der Maur die Sonate überreicht hatte. Es fehlt lediglich der dunkelblaue Kartonschuber. Aber der lag ja neben dem Opfer.
Mit großen Schritten eilt der Brahmspräsi auf uns zu. Hochrot im Gesicht strahlt er wie Clara Schumann bei der sechsten Niederkunft. »Was für ein Glückstag! Ist das denn die Möglichkeit?«, ruft er aus und erhält überraschend Antwort.
»Nein. Es ist sie nicht«, sagt Jüre trocken. Er öffnet die leere Mappe. Lange
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