Brahmsrösi: Fellers zweiter Fall
bin ich fast überzeugt. Was wollte sie dort? Besuchte sie Krakau als harmlose Touristin? Denkbar. Aber wahrscheinlich? Kaum. Sie muss konkretere Absichten verfolgt haben. Das Jazzfestival vielleicht? Hat sie neue Interpreten für ihr Musik-Label gesucht? Wozu hatte sie dann im Hotel nach den beiden Schweizern gefragt? Was hätte sie uns erzählt, falls sie uns dort angetroffen hätte?
Und die Sache mit dem Attentat? Wer saß eigentlich am Steuer? Ellen vielleicht? Ausgeschlossen! Andererseits: Wer hat in Baden-Baden entfesselte Hunde und Trinker auf mich gehetzt? Wer fand mich trotz Dunkelheit im Mittelschiff der Liebfrauenkirche? Wer trat unmittelbar nach dem Überfall tröstend an meine Seite? Es war immer die liebe Ellen! Sie war stets zur Stelle, wenn Außergewöhnliches passierte. Mich beschleichen ungute Gefühle, die ich nicht wahrhaben will. Noch nicht. Nicht Ellen! Wenn ich das Zutrauen wiederfinden will, muss ich mich mit ihr gründlich aussprechen. So rasch als möglich. Warum eigentlich nicht gleich?
Ich pirsche in einem weiten Bogen so über die Terrasse, dass ich der Ahnungslosen unweigerlich begegne und dennoch den Anschein einer gewissen Zufälligkeit wahre.
»Das war ein sonderbarer Abend, nicht wahr, Ellen?«, bemerke ich beiläufig und setze mich zu ihr auf die Mauer.
Die Angesprochene scheint mir nicht richtig zuzuhören. Sie rollt die Lippen nach innen und lässt sie mit leisem Plup! wieder nach außen schnellen. Hiernach bemerkt Ellen: »Dieser bemitleidenswerte Virtuose. Frühzeitig verstummt. Gestorben mit 64. Wie tragisch!«
Ich stimme ihr zu. »Keiner hätte Brahms heute glanzvoller zum Leben erweckt als Bernhard Bachmann. Wirklich traurig, dass …«
Sie unterbricht mich. »Bei allem Respekt, Hanspeter. Da kann man geteilter Meinung sein. Die Interpretation von Jasmin Josi ist auch nicht ohne gewesen, oder? Ist dir der Spruch ›Bachmann kein Fachmann‹ nie zu Ohren gekommen?
Ich mag ihr nicht beipflichten. Widerrede ist auch nicht angesagt. Stattdessen behalte ich mein Ziel im Auge, sie über Krakau auszuhorchen. Das Thema Bachmann scheint sich als Umweg aufzudrängen.
»Bernhard war mir vor allem ein guter Freund. Auf eine musikalische Qualifikation habe ich stets verzichtet. Immerhin bin ich davon überzeugt, dass sein Geigenspiel vielen Menschen große Freude bereitet hat. Natürlich respektiere ich, dass du als Produzentin klassischer Musikkonserven über eine differenziertere Wahrnehmung verfügst. Ich kann dir aber versichern: Ihm konnte man vertrauen wie keinem zweiten. Darum habe ich ihm etwas anvertraut, das ihm zum Verhängnis geworden ist. Mich plagt das schlechte Gewissen. Ich fühle mich schuldig. Mitschuldig am Tod eines Freundes.«
»Ich verstehe nicht ganz, wovon du sprichst, Hanspeter. Was hast du ihm anvertraut? Wieso fühlst du dich mitschuldig?«
Weiß sie wirklich nichts davon, dass er für mich das Manuskript aufbewahrt hat? Über- oder unterschätze ich diese Frau? Es ist höchste Zeit, mir Klarheit über ihre Rolle im Hickhack nach Noten zu verschaffen.
Verschiedene Gäste wechseln in den Salon. Es ist kühler geworden draußen im Garten. Auf der Maur bereitet im Cheminée Brennholz vor. Ellen und ich verbleiben auf der Terrasse.
»Am Verschwinden der Noten bin ich mitschuldig. Auf der Maur betraute mich mit der Abklärung der Frage nach deren Echtheit. Dazu händigte er mir die kostbaren Blätter aus. Die habe ich aus Sicherheitsgründen woanders deponiert. Du musst wissen, dass ich im Rahmen meiner Abklärungen gezwungen war, ins Ausland zu reisen.«
»Hanspeter, du darfst ruhig Klartext reden. Es ist mir bekannt, dass du mit Stefan Lüthi nach Krakau geflogen bist.«
Ihre Direktheit verblüfft mich. »Stimmt. Woher weißt du es?«
»Von Wójcik.«
»Du kennst ihn näher?«, staune ich.
Sie lächelt vielsagend. »Warum denn nicht? Er hat mit jedem Kontakt aufgenommen, der sich für Brahms interessiert, oder?«
»Ja, schon. Im Grunde genommen ist er derjenige, der in Thun die ganze Hektik ausgelöst hat«, stelle ich fest.
»Nicht nur in Thun, Hanspeter. Er soll in halb Europa potenzielle Käufer für die Sonate kontaktiert haben«, sagt Ellen.
Eine kleine Pause entsteht. Dann gebe ich mir einen Ruck. »Darf ich dich etwas fragen, Ellen?«
Sie nickt ermunternd.
Ich zögere dennoch. Riskiere ich mit der folgenden Erkundigung unsere Freundschaft? Es ist so hässlich, meine Trösterin aus der Liebfrauenkirche verdächtigen zu müssen. Dessen
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