Brahmsrösi: Fellers zweiter Fall
Jahre«, weiß die Verlegerin.
»Und sonst? Hast du noch andere Hypothesen auf Lager?« Ich drehe mich wieder zu Jüre um.
An Stelle meines Assistenten antwortet Ellen. »Klar. Da braucht ihr nicht weit zu suchen. Jedes einzelne Mitglied des Ensembles Vive pro Musica hat mehr oder weniger direkt einen persönlichen Bezug zu Brahms oder seinen Schweizer Freunden. Darum könnte jeder der Musiker eigennützige Interessen verfolgen.«
»Was heißt das konkret?«, erkundige ich mich.
»Was könnte beispielsweise Jasmin Josi interessieren?«, überlegt Jüre.
»Oder Marianne von Fischer und Jesica Dumoulin?«, vervollständige ich.
Eleonore Günther klärt uns auf. Sie ist gut informiert. Warum eigentlich?
Anschließend wende ich mich erneut an meinen Assistenten. »Was tun wir jetzt?«
»Wir überprüfen die Verdachtsmomente und klären die Fakten. Ich schlage vor, wir beginnen mit Bornhausens. Sie stehen für mich unter besonderem Verdacht«, sage ich.
»Was verstehst du unter einem besonderen Verdacht, Hanspudi?«
»Du weißt, was ich meine.«
»Nein. Tu ich nicht. Was ist das Besondere am Verdacht?«
»Das Besondere liegt in seiner Dringlichkeit«, erkläre ich. »Was das Verschwinden der Noten angeht, traue ich den feinen Musikfreunden aus Süddeutschland kaum über die ersten paar Taktstriche hinaus. Wissen wir eigentlich, wo die beiden logieren?«
» Ich schon. Wir offenbar nicht«, spottet mein Assistent.
Ratlos warte ich auf Erhellung.
»Im Hotel Freienhof«, sagt Jüre.
»Mir scheint, es könnte sich lohnen, sich dort einmal diskret umzuschauen«, schlage ich vor. »Was meinst du, Ellen?«
»Ja, sicher. Es wäre fast zu schön, die Notenblätter unversehrt aufzufinden. Aber wäre es nicht total verrückt, das Diebesgut im Zimmer aufzubewahren, während die Untersuchung der Kantonspolizei auf Hochtouren läuft?«, fragt sie.
Ich bleibe ihr die Antwort schuldig.
»Jüre. Du fährst auf dem kürzesten Weg ins Hotel.«
»Hallo, Hanspudi. Wie komme ich dort auf legale Art und Weise hinein? Stiftest du mich zu einer Straftat an?«
Ich lasse mich durch seine gespielte Entrüstung nicht irritieren. »Bist du nicht mit der einen Direktionsassistentin näher bekannt?«
Mein Assistent wendet sich suchend nach seiner Gattin um. Erleichtert stellt er fest, dass sie sich außer Hördistanz befindet. »Na ja, wir haben, ähm … Da war nichts Ernsthaftes, Hanspudi«, stottert er mit gedämpfter Stimme.
»Jüre. Du musst mir nicht beichten. Ich bin der Letzte, der deine ungebrochene Treue zu Marie-Josette infrage stellt. Mich interessieren deine Kontakte zur Assistentin rein beruflich«, beschwichtige ich.
»Zu Inge, meinst du?«
»Ja, wenn sie so heißt.«
Jüre weicht aus. Das Thema liegt ihm nicht. »Was soll mit ihr sein?«
»Frag nicht mich, Jüre. Frage sie . Und zwar nach dem Zimmerschlüssel«, dränge ich.
Ellen hält sich raus.
Er sucht nach Argumenten. Stattdessen findet er sich in einer Übersprunghandlung wieder. Mein Assistent greift sich ans Kinn und erkundigt sich: »Unter welchem Vorwand?«
»Das überlasse ich den festen Bestandteilen deiner beweglichen Hirnmasse.«
»Danke für das Vertrauen«, quittiert er. »Wirst du die Kaution stellen, sollte ich erwischt werden?«
»Nein. Ich mach’s wie Brahms. Sobald du aus dem Haus bist, ziehe ich bei Marie-Josette ein. So, Jüre. Beeil dich jetzt!«
»Was? Jetzt gleich? Muss das sein?«, wehrt er ab.
Ich lasse nicht locker: »Jawohl. Sofort. Entweder bringt in diesen Minuten nämlich die Bornhaus die Noten in Sicherheit, oder Geissbühler ist im Begriff, eine Zimmerdurchsuchung anzuordnen. In beiden Fällen könnten die Papiere für uns verloren sein.«
»Vermutlich geschieht beides gleichzeitig«, meint Ellen. »Der Fluchtversuch und die Zimmerdurchsuchung.«
Jüre wendet sich zu ihr. »Unter diesen Umständen bin ich ohnehin zu spät dran.« Und an mich: »Hanspudi, bringt das was? Riskiere ich nicht zu viel für zu wenig? Was, wenn die Polizei ausgerechnet in dem Augenblick auftaucht, da ich das Hotelzimmer auf den Kopf stelle?«
»Jüre, du verspielst nichts Geringeres als deine Anstellung, wenn du nicht sofort losfährst«, drohe ich.
Mein Assistent verabschiedet sich kommentarlos, informiert kurz seine Marie-Josette und reicht Auf der Maur zum Abschied die Hand. Mir hingegen winkt er nur von weitem zu. Dabei streckt er den rechten Zeigefinger wie zu einem Ausrufezeichen in die Luft. Es war doch der
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