Braig & Neundorf 11: Schwaben-Engel
aufgebaut?«
Dr. Riederich zog seine dunkelblaue Jacke zurecht, bestätigte ihre Vermutung. »Er lernte beim Bosch, machte sich mit Zweiunddreißig selbstständig. Ein großes Risiko. Er gab seinen guten Verdienst und den absolut sicheren Arbeitsplatz auf und wechselte zu einer Sieben-Tage-Woche. Kein freier Tag, kein Urlaub, nichts mit Krankheit und so. Und die ganze Familie eingespannt. Meine Mutter, die beiden Omas und der Vater meiner Mutter. Dazu wir Kinder.«
»Aber heute lässt sich feststellen: Es hat sich gelohnt,« betonte Neundorf. So langsam, aber sicher ging ihr die Selbstbeweihräucherung des Mannes auf die Nerven.
»Je nachdem. Wir tragen Verantwortung für fünfzig Arbeitsplätze. Im Moment haben wir genügend Aufträge, alle zu beschäftigen. Aber wie lange das geht, kann niemand sagen. Die Verhandlungen werden immer härter. Die Konkurrenz von Jahr zu Jahr größer. Noch verdienen wir gut. Aber ob das so bleibt?«
Neundorf drehte sich zur Seite, betrachtete das Bild auf der gegenüberliegenden Wand. »Noch ein Pissarro?«
»Exakt. Die Wollkämmerin. Von 1875. Aber ebenfalls nur ein Druck. Das Original hängt in Zürich.«
Das Gemälde zeigte eine im Freien auf einem Stuhl unter einem Baum sitzende, mit einer Stoffhaube und einer langen blauen Schürze bekleidete Frau, die damit beschäftigt war, weiße und bräunliche Schafwolle zu bearbeiten und sie in einem großen Korb aufzubewahren.
»Pissarro lebte zeitweilig zwar in Paris, fühlte sich in der Großstadt aber vom wahren Dasein entfremdet«, erläuterte Dr. Riederich. »Die Arbeit in den Fabriken, das Gewühl der Menschenmassen, die ständige Hektik und der damals schon allgegenwärtige Lärm waren ihm Symbol für die Verfehlung des Menschen. Im Leben auf dem Land dagegen, im täglichen Kontakt mit der Natur, im schlichten Dasein des Alltags auf dem Dorf können wir zu uns selbst finden, war seine Überzeugung. Nicht die künstlich illuminierte Welt der Städte, nicht das triviale Unterhaltungsangebot der Metropole hilft dem Menschen, den Sinn seiner Existenz zu finden – im Gegenteil, nur der ehrliche, aufrichtige Einklang mit der Natur, wie ihn die einfachen Leute auf dem Land pflegen, führt zu diesem Ziel. Das wollte er mit seinen Bildern zum Ausdruck bringen.«
»Und wie vereinbart sich das mit diesem Haus mitten in der Altstadt von Markgröningen?«
»Wie sich das vereinbart? Na ja, die Altstadt hier verfügt schon über einen außergewöhnlichen Flair, finden Sie nicht?«
Dr. Riederich lief zum Fenster, öffnete beide Flügel, bat Neundorf einen Blick nach draußen zu werfen.
Ein Schwall kalter Luft drang in den Raum, ließ sie unwillkürlich frösteln. Sie trat zur Brüstung vor, sah keine hundert Meter von sich entfernt den Marktplatz mit der von mehreren Strahlern aus dem nächtlichen Dunkel ins Licht getauchten prächtigen Fachwerkfassade des berühmten Rathauses. Der Anblick war ihr von mehreren Besuchen in der romantischen Stadt, von Bildern und Prospekten längst vertraut, beeindruckte aus dieser Perspektive dennoch in einzigartiger Weise.
»Das Rathaus stammt aus dem 15. Jahrhundert. Ursprünglich war es ein Kaufhaus, in dem landwirtschaftliche Produkte angeboten wurden. Im ersten Stock befand sich der Wollmarkt, darüber die Amts- und Gerichtsräume. Und was die Verbindung zum Landleben betrifft – Markgröningen war immer eine Ackerbürgerstadt. Ackerbau, Weinbau, Schafzucht und die daraus resultierenden Berufe wie Bäcker, Metzger, Müller, Küfer, Wagner und Sattler dominierten die Wirtschaft. Die meisten Häuser der engen Finsteren Gasse, die Sie links vom Rathaus sehen, wurden von Ackerbürgern errichtet. Der Stall befand sich im Erdgeschoss, darüber wohnten die Leute. In den oberen Stockwerken trockneten sie ihr Getreide.«
Neundorf atmete tief durch, zeigte sich beeindruckt. »Hier wohnen zu dürfen ist ein Geschenk. Hoffentlich verfügen Sie auch über die Zeit, es zu genießen.«
»Sie haben das Problem erkannt.«
Er drückte sich wieder zur Brüstung vor, schloss beide Fensterflügel. »Es war schon immer der Traum meiner Eltern, hier zu leben. Als das Haus zum Verkauf stand, griff mein Vater zu. Ein Glücksgriff für uns alle.«
Sie signalisierte ihm schweigend Zustimmung, versuchte, sich auf ihr Anliegen zu konzentrieren. »Aber dieses Glück scheint Ihnen irgendjemand nicht zu gönnen.«
Dr. Riederich wies auf das Sofa, bat seine Besucherin, Platz zu nehmen, setzte sich ihr gegenüber. »Darf
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