Braig & Neundorf 11: Schwaben-Engel
aufgeräumten Zustand gesehen zu haben. Alle Aktenordner, die er flüchtig durchblätterte, enthielten sauber und eng beschriebene Blätter, handschriftliche oder ausgedruckte Aufzeichnungen aus Seminaren und Vorlesungen, alle korrekt überschrieben und – soweit er es beurteilen konnte – in der richtigen Reihenfolge aufbewahrt.
War das wirklich das Zimmer einer jungen Studentin? Disziplin, Ordnung, Sauberkeit und Fleiß schienen aus allen Ecken des Raumes zu sprechen, wo blieben Lebensfreude, Gefühle, Sehnsüchte, jugendlicher Überschwang?
Braig sah die beiden in schmale, helle Rahmen eingefassten Fotos an der Wand über der kleinen Nachtkonsole; zum einen das ihm aus Schwäbisch Hall bekannte Porträt der Familie Haag mit Vater, Mutter, Tochter und Sohn, zum anderen Lisa – den blonden Engel zu erkennen fiel aufgrund ihrer außergewöhnlichen Erscheinung nicht schwer – Arm in Arm mit einem ihm unbekannten jungen Mann. Er nahm das Bild von der Wand, verließ das Zimmer, rief nach Vanessa Kösel.
»Das ist Dennis, ja«, bestätigte sie, bevor er noch danach fragen konnte, auf das Foto weisend. »Ich glaube, es stammt aus dem letzten Sommer. So etwas hat sie jedenfalls einmal erwähnt.«
Er bedankte sich für die Auskunft, ging in Lisa Haags Zimmer zurück. War die Beziehung zwischen den beiden doch noch intakt, die vermeintliche Beobachtung der Mitbewohnerin auf falsche Interpretation zurückzuführen? Hätte die junge Frau das Bild nicht längst aus ihrem unmittelbaren Gesichtskreis entfernt, wenn inzwischen ein anderer Mann an die Stelle des Abgebildeten getreten wäre?
Braig zog die Schublade der Nachtkonsole vor, fand ein winziges Notizbuch mit Namen und Adressen sowie Telefonnummern, in alphabetischer Anordnung. Er blätterte es durch, fand auf der letzten Seite unter Dennis Zeller eine Handy- sowie eine Festnetznummer samt der Bissinger Anschrift des Mannes. Er beschloss, das kleine Adressbuch samt dem Foto Zellers und dem Notebook vorerst mitzunehmen, warf einen Blick in die beiden Kleiderschränke, wunderte sich über die dicht gefüllten Fächer und die Menge der mittels Kleiderbügeln aufbewahrten Textilien. Mindestens das Doppelte, wenn nicht gar das Dreifache, über das seine Partnerin zu Hause verfügte, war ihm bewusst, und nichts, aber auch gar nichts sprach dafür, dass es Ann-Katrin an ausreichender Auswahl mangelte. Wahrscheinlich hatte Lisa Haag ein besonderes Faible für modische Kleidung und Accessoires entwickelt und viel Wert darauf gelegt, sich abwechslungsreich anzuziehen, was die Vielzahl der Textilien erklärte und wohl nur ihm als Mann ungewohnt vorkam. Jedem sein Hobby, überlegte er. Er nahm das Notebook und das Bild an sich, erkundigte sich bei Vanessa Kösel nach dem Inhalt der beiden Kleiderschränke.
»Ihre Klamotten? Absolut tabu«, erklärte die junge Frau.
»Wie soll ich das verstehen?«
»Die sind ihr Ein und Alles. Da darf niemand ran.«
»Sie auch nicht?«
»Um Gottes Willen, nein. Da versteht sie keinen Spaß.«
»Ihr Hobby sozusagen.«
»Eher ihr Spleen. Sie steht stundenlang vor dem Spiegel.«
»Nur für sich? Ich meine …«
»Abends, zum Ausgehen. Und fürs Wochenende natürlich.«
Braig nickte, bat sie, für weitere Auskünfte bereit zu stehen, verabschiedete sich.
»Sie haben Dennis erreicht?«
»Ich werde es versuchen.«
Er trat ins Treppenhaus, das Notebook und das Bild in einer großen Plastiktüte unter dem Arm, zog sein Handy vor, gab zuerst die Mobilfunknummer, dann, als es nicht klappte, die Festnetzverbindung des jungen Mannes ein. Diesmal hatte er auf Anhieb Erfolg.
»Zeller«, schnaufte eine kräftige männliche Stimme. Die Person am anderen Ende schien außer Atem, rang um Luft.
»Dennis Zeller?«, vergewisserte sich Braig.
»Dennis? Nein, der ist unterwegs.«
»Mein Name ist Braig. Sind Sie Dennis Vater?«
»Genau. Soll ich ihm etwas ausrichten?«
»Ich würde gern persönlich mit ihm sprechen.«
»Dann sind Sie der Versicherungsvertreter? Er wartet seit Tagen auf Ihren Anruf. Aber heute ist er in der Höhle. Bis zum Abend. Gegen Sechs oder Sieben, dann kommt er zurück, schätze ich mal.«
»In welcher Höhle?«
»Was weiß ich? Sie kennen ihn doch, oder? Dann wissen Sie doch um seinen Tick. Auf der Alb bei Gomadingen.«
»Allein«, fragte Braig.
»Quatsch«, antwortete der Mann, »das ist doch viel zu gefährlich. Mit seinen Kumpels und dem Professor. Hat er Ihnen das nicht erzählt?«
»Nein«, sagte Braig.
»Nicht?
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