Braig & Neundorf 12: Schwabenehre
Dass auch der Weg zur weithin gerühmten Kinderklinik keine 500 Meter betrug, hatte Ann-Katrin Räuber erst auf dem Rückweg nach ihrem ersten Besuch bemerkt.
»Paprika«, erklärte Dr. Genkinger. »Haben Sie die roten Flecken in seinem Fell gesehen?«
Er zeigte auf den Anhänger der mit dem Fahrrad auf den nahen Park zusteuernden jungen Frau. »Als Welpe waren sie noch wesentlich ausgeprägter. Fast so wie bei rotem Paprika. Ein perfekter Name. Drei kräftige Vokale. Der hört aufs Wort.«
»Sie kannten ihn schon als Welpen?«
Der Tierarzt lachte. »Ich habe ihnen das Tier vermittelt. Es stammt aus dem Wurf eines anderen Patienten. Drei Brüder und eine Schwester. Wir haben sie alle untergebracht.«
»Aber im Notfall hätten Sie sie selbst behalten?«, frotzelte Braig.
Sein Gesprächspartner wiegte den Kopf hin und her. »Ich weiß ja nicht, was mein Neffe alles über mich erzählt hat.« Er schaute hinter der Frau her, die ihm noch einmal winkte, bevor sie endgültig um die Ecke verschwand. »Gut, im Notfall, ja. Bevor die Tiere im Heim landen.« Dr. Genkinger hob seine Hand, streckte mahnend seinen Zeigefinger in die Luft. »Nichts gegen Tierheime. Die meisten werden engagiert und kompetent geführt, jedenfalls die in unserer Umgebung. Aber für die meisten Tiere ist das Leben dort trotzdem ein Graus. Unzählige Artgenossen auf engstem Raum. Das ist gerade so, als wenn Sie hundert Leute zwingen, gemeinsam in einer Turnhalle zu vegetieren. Essen, trinken, schlafen, alles auf engstem Raum. Da hilft auch ein kurzer Auslauf am Mittag nicht viel. Hunde und Katzen sind individuelle Charaktere, genau wie wir und die anderen höheren Säugetiere. Unsere nächsten Verwandten sozusagen. Aber das will ja niemand hören. Besonders, wenn sie noch andere Tiere wie Kühe und Schweine mit ins Spiel bringen. Wir Menschen sind was Besseres, stehen eine, nein, was sage ich denn, zehn, fünfzehn, zwanzig Stufen höher als die Tiere. Wir sind die Krone der Schöpfung.« Er hatte den letzten Satz in solch abfälligem Ton von sich gegeben, dass Braig überrascht aufsah.
»Na ja, aber mit diesen Kronen der Schöpfung haben Sie ja Tag für Tag zu tun, das können Sie wohl am besten beurteilen«, fügte der Tierarzt dann hinzu.
»Mit ganz speziellen Exemplaren«, bestätigte Braig. »Aber Kühe und Schweine bilden hier in Cannstatt nicht gerade ihre größte Klientel, nehme ich mal an.« Er betrachtete sein Gegenüber mit schnippisch-grinsender Miene, sah den Mann laut auflachen.
»Hier direkt in Cannstatt nicht, da haben Sie recht«, erklärte Dr. Genkinger. »Aber wenn Sie glauben, ich hätte deswegen keine Ahnung von anderem als nur Hunden und Katzen, täuschen sie sich. Meine Haustierpraxis ist nicht alles. Ich arbeite seit über fünfzehn Jahren auch für die Wilhelma und war auch eine Zeit lang im Ausland tätig. Als junger Mann in Südafrika, um es genau zu sagen. Das hat Ihnen mein Neffe nicht erzählt, was?«
»Nein, das hat er mir nicht erzählt«, bestätigte Braig. »Dann verfügen Sie wirklich über reichhaltige Erfahrung, was Säugetiere anbelangt.«
»Auf jeden Fall genug, um ihre enge Verwandtschaft zu uns nicht aus den Augen zu verlieren. Dass das Verhalten der Tiere nicht nur von Instinkten, sondern in starkem Maß von Emotionen wie Eifersucht, Neid, Liebe, dem Bedürfnis nach Zuwendung bestimmt wird – ähnlich wie unser eigenes. Dass sie sich in der Gruppe anders verhalten als als Einzelwesen, dass die meisten, gleich welcher Art oder Rasse, Gesellschaft benötigen, nicht nur ihresgleichen, sondern durchaus auch die von Menschen, sie andererseits aber auch das Bedürfnis verspüren, sich zeitweise zurückziehen und für sich allein sein zu können. Ich könnte Ihnen unzählige Beispiele erzählen, wo das ganz deutlich wird. Selbst erlebt, versteht sich. Paprika, der kleine Kerl, den Sie gerade gesehen haben, zum Beispiel. Er kann nicht allein sein, verträgt es nicht, wenn seine Menschen den ganzen Tag außer Haus sind.
Wir können ihn nicht länger behalten, beschwerte sich Frau Zehetmaier – Sie haben sie auf ihrem Fahrrad gesehen – sechs, sieben Wochen, nachdem sie ihn zu sich genommen hatten, bei mir. Kaum sind wir aus der Wohnung, fängt er an zu kläffen und zu heulen und unsere Polster und Kissen zu zerbeißen. Ich muss aber zwei Tage in der Woche auswärts zur Arbeit, erklärte sie mir, und ihn mitnehmen, das geht nicht.
Die Nachbarn waren die Lösung. Sie wohnen ein paar Häuser weiter,
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