Braig & Neundorf 12: Schwabenehre
verwirklicht. Nicht einmal mehr nachts war es ihnen möglich, die Fenster offen zu halten, um frische Luft in die Wohnung zu lassen – heulender Motorenlärm, schrill quietschende Bremsen und nervtötendes Gehupe verhinderten jeden ruhigen Schlaf – und das mitten in einem als verkehrsberuhigte Zone deklarierten Areal. Hier, in dieser lebensfeindlichen Umgebung sollte ihr Kind aufwachsen?
»I ka dei Weib verstände«, hatte Rössle erklärt, »zum Glück hent mir des Haus am Rand von Böblinge, sonscht würd i verrückt! Der wahnsinnige Verkehr – des kannsch doch deim Kind net a do!«
Fünf Tage später, sie waren dem Mörder der beiden jungen Frauen gerade durch einen Zufall auf die Schliche gekommen, hatte der Spurensicherer von der freiwerdenden Wohnung im Haus seines Onkels erzählt. »Es wär en Versuch wert!«
Die ältere Witwe, die die drei Zimmer lange über den Tod ihres Mannes hinaus bewohnt hatte, war gezwungen gewesen, in ein Altenheim umzuziehen.
»Sie hats bitter bereut, i han selbscht mir ihr gschwätzt. Aber es isch nimmer anders gange.«
Ann-Katrins Zögern zum Trotz hatten sie gemeinsam mit Rössle dessen Onkel besucht. Das Haus lag nicht einmal einen Kilometer vom Landeskriminalamt entfernt. Dr. Otto Genkinger lebte gemeinsam mit mehreren Katzen, Schildkröten und einem Hund im ersten Obergeschoss unmittelbar über seiner Praxis. Seine Wohnung, zumindest die beiden üppig mit Teppichen, Sofas und Sesseln ausstaffierten Wohnräume, die sie zu sehen bekamen, kündete an allen Ecken und Enden von den vierbeinigen Hausgenossen: Flauschige, in mehreren Lagen übereinander gebreitete Decken auf fast allen Sitzgelegenheiten, mit Nahrung verschiedenster Art gefüllte Näpfe und kleine Wasserschüsseln in verschiedenen Ecken der Zimmer.
»Mein Neffe hat Sie mir ausführlich beschrieben«, hatte Genkinger sie empfangen, »ich weiß also über all Ihre Macken bis ins Detail Bescheid.« Er hatte ihre verdutzten Gesichter bemerkt, dann aus voller Kehle gelacht, schließlich ein verschmitztes: »Jetzt haben Sie aber Angst bekommen, was?«, hinzu gefügt.
Dass der Tierarzt selbst seine Macken hatte, ja sie geradezu kultivierte, war ihnen nach diversen Ankündigungen Rössles schon beim ersten Besuch in seinem Haus nicht verborgen geblieben. Wo immer er sich aufhielt, strich eine der Katzen um seine Beine. Kaum hatte er sich irgendwo niedergelassen, lag eines der Tiere, manchmal auch der Husky, auf seinem Schoß.
»Mei Onkel Otto hat halt nix als seine Tiere im Sinn«, hatte der Spurensicherer erklärt, »man könnt grad glaube, es gäb koi Tierheime in dem Land.«
Dr. Genkinger war sofort bereit, ihnen die Wohnung zu vermieten. »Gleich zwei Polizeibeamte im Haus, noch dazu einen Kriminalkommissar – wann kann ich ruhiger schlafen?«
Ann-Katrins zuerst zögernd, dann jedoch offen ausgesprochenen Bedenken, ihr Kind der unmittelbaren Nähe so vieler Tiere und damit besonders intensiver Belastung durch Bakterien und Keime auszusetzen, war der Veterinär mit sachkundigen Argumenten entgegengetreten.
»Liebe werdende Mama«, hatte er ihr erklärt, »soweit meine bescheidenen medizinischen Kenntnisse reichen, sind sich fast alle Ärzte darin einig, dass wir der Gesundheit eines Kindes nichts besseres tun können, als es im Umfeld von möglichst vielen Tieren aufwachsen zu lassen. Nur in dieser Umgebung fängt der Körper bereits in jungen Jahren an, Antikörper gegen alle herkömmlichen Erreger auszubilden. Mit Tieren aufzuwachsen ist nach gegenwärtigem medizinischen Wissen die beste Therapie für die Stärkung des Immunsystems ihres Kindes. Hier«, er hatte ihr zwei dicke farbige Broschüren in die Hand gedrückt, »wenn Sie mir altem Quacksalber nicht vertrauen, informieren Sie sich selbst. Das sind die Ausführungen von Kinderärzten zu diesem Thema. Studieren Sie sie in Ruhe.«
Sie hatten nur drei Tage gebraucht, sich für den Umzug zu entscheiden. Die relativ ruhige Lage, die Möglichkeit, direkt von der Gartenpforte auf den allein Fußgängern und Radfahrern vorbehaltenen Weg zur unmittelbar benachbarten Grünanlage und zum Cannstatter Kurpark zu gelangen, ohne von Autos belästigt zu werden, waren schlagkräftige Argumente genug. Die Nähe zum Amt – Braig hatte gerade acht Minuten gebraucht, es vom Haus des Tierarztes aus zu Fuß zu erreichen – der Lebensmittelladen, die Stadtbahn- und S-Bahn-Stationen Augsburger Platz und Nürnberger Straße um die Ecke, hatten sie vollends überzeugt.
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