Braig & Neundorf 12: Schwabenehre
Esslingens, 1212 erhob der spätere Kaiser Friedrich II. die Siedlung zur Reichsstadt.
Die unmittelbare Nachbarschaft zu den Niederlassungen der Württemberger – Beutelsbach, Urach, Stutengarten – provozierte ständig Auseinandersetzungen. Seit Ulrich I., dem ersten Grafen Württembergs, wurde Esslingen mehrfach angegriffen, weshalb die Stadt gezwungen war, sich rundum mit den heute noch teilweise sichtbaren wuchtigen Befestigungsanlagen zu schützen. Innerhalb kurzer Zeit gewann sie dermaßen an Bedeutung, dass man jenseits des damaligen Flusslaufs des Neckars, der heutigen Maille, eine zusätzliche Siedlung, die heutige Pliensauvorstadt errichtete. Um den Stadtkern mit ihr zu verbinden, wurde die fast 150 Meter lange Innere Brücke erbaut. Die häufigen Hochwasser des vom Schwarzwaldrand her strömenden Flusses versetzten die Vorstadtbewohner so oft in große Not, dass schließlich mit großer Mühe ein neues Flussbett in Angriff genommen wurde. In jahrelanger Arbeit wurde es ausgegraben und mit der Äußeren Brücke überspannt. Drei Türme schützten das Bauwerk vor Angriffen. Seither überquert die heute vorbildlich restaurierte, von prächtigen Hausfassaden gesäumte Innere Brücke nur noch die schmalen Kanäle des Roßneckar und des Wehrneckar, zudem die weitläufigen, mitten in die Altstadt ragenden Rasenflächen der Maille. Dieser in den warmen Monaten von unzähligen spielenden Kindern, miteinander schäkernden und flirtenden Jugendlichen sowie vielen Spaziergängern bevölkerte Park hat seinen Namen vom alten Zeitvertreib des Paille Maille, bei dem Holzstücke mit Stöcken um die Wette zu einem bestimmten Ziel geschlagen wurden – Braig war die Geschichte Esslingens von vielen Besuchen der Stadt gut bekannt.
Aus dem Bahnhof in die schmalen Gassen der Fußgängerzone eintauchend, glaubte er sich auch heute wieder in eine längst vergangene, weniger lärmende und hektische Zeit versetzt. Ein einzigartiger Zauber schien von all den vielen verträumten Winkeln, lauschigen Plätzen und von anmutig herausgeputzten Hausfassaden gesäumten Gassen auszugehen. Wie so oft spürte er die Faszination, die dieses von unzähligen Passanten bevölkerte Siedlungsensemble ausstrahlte. Ein wahres städtebauliches Juwel, das weit und breit seinesgleichen suchte.
Braig steuerte die Innere Brücke an, folgte den Treppen hinter der Nikolaus-Kapelle hinunter zu den Wiesen. Auf den kreisrunden Blumeninseln inmitten der weiten Rasenflächen breiteten Hunderte kleiner Stiefmütterchen als erste Vorboten des zu ahnenden Frühlings ihre Blüten aus. Er hatte den zarten Hauch ihres süßlich-herben Duftes in der Nase, sah die beiden in dunkelgrüne Latzhosen gekleideten Gestalten an einem der Beete arbeiten. Am Rand des Blumenmeeres kniend waren sie damit beschäftigt, die Erde mit kleinen Hacken aufzulockern und einzelne Pflanzen herauszuzupfen.
Braig passierte mehrere, Kinderwagen vor sich herschiebende Frauen, wich einer Gruppe lärmender, hintereinander her springender Jugendlicher aus, lief auf die beiden mit den Blumen beschäftigten Arbeiter zu. »Fick dich ins Knie«, schrie eine schrille Stimme neben ihm, als er das Beet gerade erreicht hatte, »du Wichser, du elender.«
Erstaunt drehte er sich um, sah ein junges, vielleicht dreizehn- oder vierzehnjähriges Mädchen vor sich, das den ausgestreckten Mittelfinger hinter einem davonspurtenden Jungen her reckte und mit patzigem Gesichtsausdruck und lautem Schmatzen ein Kaugummi zwischen ihren Zähnen hin und her bewegte. »Halts Maul, du verfickte Nutte«, schallte postwendend die Antwort zurück.
Braig drückte sich ohne Kommentar an dem jungen Ding vorbei, hatte die beiden mit Gärtnerarbeiten befassten Gestalten erreicht. Er sah, dass es sich um eine Frau und einen Mann handelte, postierte sich vor der allein in Frage kommenden Person.
»Galt das jetzt dir oder mir?«, hörte er die Frau fragen. Sie hatte ein breites, von kräftigen roten Wangen gezeichnetes Gesicht, trug kurze dunkle Haare, schien Mitte Vierzig.
Der Mann versuchte sich an einer nur schwer verständlichen Antwort, verfiel in ein schweres, kräftig rasselndes Husten.
Raucherlunge, überlegte Braig, im fortgeschrittenen Stadium. Er wartete, bis sich der Arbeiter wieder beruhigt hatte, nickte der Frau, die fragend zu ihm aufsah, freundlich zu. »Frau Schmitt?«
Sie nickte zögernd, drückte sich mit der Rechten vom Boden hoch, ließ ihm Zeit, sich vorzustellen.
»Mein Name ist Braig. Wir haben
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