Braig & Neundorf 13: Schwaben-Sommer
Arbeitsstelle wohnten. Der Wunsch jedoch, Marc Bumiller möglichst bald zu sprechen, hatte ihn zu einer Änderung seines Plans bewogen.
Braig war nach seinem Gespräch mit Fiona Bering zum Bahnhof in Nürtingen geeilt, hatte sich unterwegs ein Käsebrötchen gekauft, es dann im Zug während seines Telefonats mit seiner Partnerin langsam gegessen. Die obere Etage des letzten Wagens war fast vollkommen leer, so hatte er sich in Ruhe unterhalten können. »Was macht ihr zwei?«
Fast gleichzeitig mit Ann-Katrins Antwort hatte er die begeisterten Rufe seiner Tochter gehört, die irgendwo im Hintergrund unterwegs gewesen war.
»Heute Morgen waren wir im Park und auf dem Spielplatz. Und jetzt, fast eine Stunde lang, intensives Katzenknutschen.«
Zahme, knuddelige Tiere in Hülle und Fülle, das war einer der großen Vorteile, im Haus eines zugunsten seiner Patienten und deren Geschwister überaus engagierten Tierarztes zu wohnen.
»Du kommst zu uns?«
Braig hatte seiner Partnerin von dem neuesten Vorfall und ihren Ermittlungen erzählt, war dann auf seinen Plan eingegangen, diesen Bumiller aufzusuchen.
»Also gut, dann essen wir eben nur zu dritt. Ich habe Dr. Genkinger eingeladen.«
»Sehr gut. Der freut sich garantiert.«
»Er bringt einen Hasen mit, für Ann-Sophie zum Streicheln. Ein ganz zahmer Kerl, meinte er. Schaffst du es heute Abend? Dr. Genkinger will auch mitkommen.«
»Ich will es versuchen. Ab neunzehn Uhr?«
»Ja. Ich nehme wieder den Kinderwagen. Und vergiss dein Ohropax nicht.«
»Auf keinen Fall. Hauptsache, du hast deine Trillerpfeife dabei.«
Ann-Katrin hatte laut gelacht. »Keine Angst. Die werden uns hören.«
Seit mehreren Wochen schon trafen sich mittlerweile allabendlich immer mehr Menschen am Stuttgarter Hauptbahnhof, um gegen die mit Milliarden öffentlicher Gelder betriebene Zerstörung des Bahnverkehrs in der Landeshauptstadt zu protestieren. Braig war den Parolen der Befürworter des Projekts »Stuttgart 21« anfangs voller Begeisterung gefolgt. Der alte, jahrzehntelang vernachlässigte Stuttgarter Kopfbahnhof sollte samt der großen zentrumsnahen Flächen des bereits brachliegenden Güterbahnhofs sowie des Wagen- und Lok-Abstellbahnhofs zugunsten eines unter die Erde verlegten, hypermodernen Durchgangsbahnhofs aufgegeben werden. Dynamik, Fortschritt, riesige neue Siedlungsflächen mitten im Talkessel Stuttgarts – ein städtebaulicher Traum würde wahr. Weg mit den vergammelten, mit Taubendreck verunstalteten, alte Lagerhallenatmosphäre ausstrahlenden Gleisanlagen! Freie Bahn für alle Züge, kein die Fahrt unterbrechender umständlicher Richtungswechsel mehr!
Doch je mehr Braig sich über die Einzelheiten informierte, desto deutlicher wurde ihm, was für ein Desaster da auf die gesamte Region zukam. Sämtliche zum Bahnhof führenden Schienenstrecken, insgesamt weit über sechzig Kilometer, sollten unter die Erde verlegt werden – in einen Untergrund, der an unzähligen Stellen von Anhydrit-Gipskeuper, einer äußerst labilen Gesteinsschicht geprägt war. Stuttgarts Erdreich, bekannt für seine an allen Ecken und Enden der Stadt sprudelnden Mineralquellen, sollte angebohrt und das Grundwasser dauerhaft mit Tag und Nacht laufenden Pumpen abgesenkt werden – mit nicht zu kalkulierenden Risiken.
Wissenschaftliche Gutachten, die man über Jahre hinweg vor der Bevölkerung versteckt hatte und erst durch gezielte Indiskretionen besorgter Fachleute bekannt geworden waren, warnten zudem vor der absurden Idee, den bisher mit sechzehn Gleisen ausgestatteten, ebenerdig ohne Treppen zugänglichen Bahnhof in eine schiefe, stark abschüssige, mit viel zu schmalen Bahnsteigen ausgestattete und auf nur noch acht Gleise reduzierte Anlage zu verwandeln. Die Kastration des Bahnverkehrs der gesamten Region sei die Folge, waren sich sämtliche Wissenschaftler einig, überall werde genau das Gegenteil als Ziel avisiert, nämlich Bahnknotenpunkten mehr Gleise zur Verfügung zu stellen, um günstige Anschluss- und Umsteigemöglichkeiten zu schaffen. Selbst die Behauptung von einer Beschleunigung des Zugverkehrs durch den neuen Bahnhof verkehrte die Realität ins Gegenteil, handelte es sich doch um maximal zwei Minuten, die Fernzüge einsparten; für den Großteil der Passagiere dagegen würde sich die Reisezeit deutlich verlängern, gingen doch viele gute Anschlüsse verloren.
Auch um neue Siedlungsflächen im Zentrum der Stadt freizulegen, bedurfte es keines unterirdisch eingezwängten
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