Braig & Neundorf 13: Schwaben-Sommer
Bahnhofs; eine Renovierung des Kopfbahnhofs brachte, wie detaillierte Pläne der Umweltverbände belegten, nahezu den gleichen Effekt: Der ehemalige Güterbahnhof, der Wagen- und Lok-Abstellbahnhof ließen sich auch mit einer Überarbeitung des Kopfbahnhofs verlegen, die noch verbleibenden Schienen konnte man – wie etwa in Basel – überbauen und das zu einem Bruchteil der Milliardensummen von »Stuttgart 21«.
Überhaupt – das Geld: Waren der Bevölkerung bei der Vorstellung des Projekts noch weit weniger als drei Milliarden Euro als Kosten des neuen Bahnhofs genannt worden, so sprachen die Gutachten des Bundesrechnungshofs 2008 schon von weit über fünf Milliarden, das des Umweltbundesamtes von 2010 gar von fünf bis sieben Milliarden Euro – letztendlich Steuergelder.
Fünf bis sieben Milliarden Euro sinnlos vergeuden, wo es überall im Land an Geld für die dringend erforderliche Verbesserung des Schienennetzes fehlte: Was konnte mit vergleichsweise kleinen Summen von zehn bis zwanzig Millionen nicht alles an der notleidenden Schieneninfrastruktur verbessert werden: Begradigungen und Ausweichgleise etwa auf der in irrsinnig engen Kurven verlaufenden, noch dazu eingleisigen Hauptstrecke von Stuttgart an den Bodensee und in die Schweiz; Ausweichgleise zur Eindämmung der ständigen Verspätungen auf eingleisigen Linien wie Backnang – Schwäbisch Hall, Pforzheim – Hochdorf; Elektrifizierung der Strecke Tübingen – Sigmaringen. Doch wann immer Verbesserungen dieser Art vorgeschlagen wurden, gab es nur eine Antwort: kein Geld.
Braig erinnerte sich seiner Aufenthalte in der Schweiz, wo es mit einer einzigen Fahrkarte möglich war, jedes noch so kleine Dorf alle dreißig, spätestens alle sechzig Minuten mit einem Zug oder einem Bus zu erreichen. Wie das Netz einer Spinne waren dort alle Bahnen und Busse miteinander verknüpft, an allen Knotenpunkten sofortige Anschlüsse garantierend. Dieses vorbildliche System zu finanzieren, war nur durch den bewussten Verzicht auf teure Neubauten gelungen, man setzte stattdessen auf die Beschleunigung der Züge durch Begradigungen kurviger Strecken, den Einbau von Ausweich- und Zusatzgleisen überall im Land.
Deutschland dagegen hatte den gegenteiligen Weg eingeschlagen: Man klotzte irrsinnig teure Neubaustrecken in die Landschaft, auf denen Züge mit hohem Tempo und zu unbezahlbaren Preisen zum nächsten Bahnhof rasten, wo die Reisenden dann meist gezwungen waren, Ewigkeiten auf ihre Anschlüsse zu warten. Dieser teuren Einzelprojekte wegen fehlte das Geld für die weit effektiveren und sinnvolleren Netzergänzungen, auf die ein gut funktionierendes Bahnsystem angewiesen war. Sollte »Stuttgart 21« gebaut werden, verhinderte es auf Jahrzehnte hinaus eine Verbesserung des oft maroden öffentlichen Verkehrs im ganzen Land. Eine von jeder sinnvollen Verkehrspolitik entfremdete Polit- und Managerkaste traf in dieser Republik die Entscheidungen, war Braig sich klar.
»Allein die Tatsache, dass diese Typen die Menschen in sechsundsechzig Kilometer lange Tunnel zwingen wollen, in einen Bahnhof mit so abschüssigen Bahnsteigen, dass Kinderwagen und Rollkoffer nicht abgestellt werden können, zeugt doch von deren Realitätsferne. Glaubst du, auch nur einer von denen sitzt in einem Zug? Oh nein, die lassen sich auf unsere Kosten in dicken Limousinen chauffieren«, hatte Neundorf erklärt. »Mach dir nichts vor: Bei ›Stuttgart 21‹ geht es primär um ein Immobilienprojekt, bei dem viele Leute ein Riesengeschäft wittern. Deshalb muss der Bahnhof unter die Erde, das ist der Punkt.«
Je mehr Informationen Braig über das Projekt erhielt und je länger er darüber nachdachte, desto stärker fühlte er sich verpflichtet, seine Stimme dagegen zu erheben.
»Eine Demokratie kann nur dann funktionieren, wenn sich möglichst viele aktiv einbringen«, hatte Theresa Räuber argumentiert, »und wenn du feststellst, dass die Verantwortlichen – fehlbare Existenzen wie du und ich – sich zu falschen Entscheidungen haben verführen lassen, dann musst du ihnen so lange auf die Finger klopfen, bis die das einsehen.«
»Ich fürchte nur, den meisten von denen fehlt schon das intellektuelle Potential dazu, irgendetwas einzusehen«, hatte Neundorf gekontert. »Die schweben doch abgehoben von uns Normalsterblichen über den Wolken wie die Herrscher früher im Mittelalter.« Sie wusste, dass Thomas Weiss, ihr Lebensgefährte, an einem Essay über den Volksaufstand des »Armen Konrad«
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