BRAINFUCK
demonstrierte und spendete? Wie viele aufrüttelnde Statements und Bilder sollte er auf Facebook noch posten, damit von diesen verbohrten Betonköpfen da draußen endlich jemand zu denken anfing? Auf wie vielen Demonstrationen würde er noch die Aufmerksamkeit der Leichenfresser erregen müssen, bis sie verstanden? Mitgefühl schien sich beim Menschen auf seine eigene Rasse zu beschränken. Fühlte ein Mensch psychischen oder körperlichen Schmerz, bekam er Zuspruch, Anteilnahme und Hilfe – wurden Hunderte Tiere bestialisch abgeschlachtet, gab es höchstens ein Achselzucken oder den Hinweis, dass es eben so sei und man es nicht ändern könne. Der Mensch sei schließlich ein Allesfresser und müsse, um sich ausgewogen zu ernähren, Fleisch essen, das ohne Tiere zu töten, nicht zu bekommen sei.
Werbesprüche wie: »Fleisch ist ein Stück Lebenskraft« oder »Die Milch macht's« ließen seine Nackenhaare aufstehen. Wer von den gehirngewaschenen, der Lebensmittelindustrie hörigen Vollidioten machte sich Gedanken darum, wie viel Leid in jedem Schnitzel, in jedem Liter Milch steckte? Er tat es. Von Tag zu Tag intensiver.
Je mehr er sich für Tierschutz und veganes Leben einsetzte, desto geringer wurde die Anzahl seiner Freunde. Er wusste, dass diese Leute, die Oberflächlichkeit und Empathielosigkeit zu ihrem Lebensmotto gemacht hatten, sich von ihm distanzierten, weil er ihnen ein schlechtes Gewissen machte. Weil ihnen bewusst war, dass er Recht hatte und sie sich nicht länger mit der paradoxen Philosophie, die sie lebten, auseinandersetzen wollten.
Er vermisste solche Freunde nicht. Im Gegenteil – in seinem Leben hatten sie keinen Platz mehr. Er hatte viele Menschen kennengelernt, die ähnlich dachten und fühlten wie er. Diese Gemeinschaft vergrößerte sich ständig. Das tröstete ihn ein wenig. Einige von diesen Gesinnungsgenossen vertraten extreme Meinungen und schreckten vor Gewaltanwendung nicht zurück, wenn sie auf ein besonders schlimmes Beispiel von Tierquälerei stießen. Bisher hatte sich Stefan von ihnen distanziert. Aber je mehr seine Hilflosigkeit sich in Wut verwandelte, desto näher kam ihm der Gedanke daran, es den Tierquälern und Massenmördern heimzuzahlen. Doch wie? Sollte er auf die Färöer fliegen und die Walkiller finden und zusammenschlagen?
Es war spät geworden und er beschloss, schlafen zu gehen. Es dauerte lange, bis seine wild rotierenden Gedanken sich beruhigten und ein tiefrotes Rauschen ihren Platz einnahm. Auf die Färöer fliegen …
*
Der Gedanke zu handeln, ließ ihn auch am nächsten Morgen nicht los. Während er sein Müsli mit Sojamilch verzehrte, huschten seine Finger über die Tastatur und innerhalb weniger Minuten wusste Stefan, dass die Bilder der toten Wale in der Nähe von Sorvagur entstanden waren. Ein paar Nachfragen bei gut informierten Mitgliedern der Tierschützerszene später hatte er herausgefunden, dass die für das Massaker verantwortliche Flotte zwei Herren mit den Namen Jákub Poulson und Brandur Hanusson gehörte.
Soweit, so gut. Nur, was anfangen mit diesen Informationen? Sollte er wirklich? Zehn Tage Urlaub lagen noch vor ihm und eigentlich …
Noch während er das dachte, gab sein Gehirn den Händen den Befehl, sich zu bewegen. Tatsächlich gab es einen günstigen Hinflug am Mittwoch und einen Rückflug am Donnerstag. Er buchte beide.
*
Den Dienstag verbrachte er damit, sich wichtige Begriffe und Worte in der Landessprache sowie auf Dänisch einzuprägen und seinen Koffer zu packen. Die Kleidungsstücke mit den Sea-Shepherd-Aufdrucken blieben im Schrank – er wollte unauffällig bleiben, um sich in Ruhe umsehen zu können. Und dann? Was würde er tun, wenn er Jákub Poulson und Brandur Hanusson gefunden hatte? Tief in seinem Inneren versteckte sich eine heimliche Gewissheit und er kicherte leise. Sich das unvermeidliche Ende seiner Aktion eingestehen oder es gar aussprechen, konnte er noch nicht.
*
Der Matsch war knöcheltief. Nur er steckte darin, der Rest des Demonstrationszuges kam mühelos voran. Menschen mit Transparenten, Schildern und Fahnen zogen an ihm vorbei, während er immer tiefer einsank.
»Rettet die Wale!«, versuchte er in den Chor der Marschierenden einzustimmen – seine Stimme versagte. Der Schlamm erreichte seine Oberschenkel. Stefan streckte das Schild mit dem Porträt von Paul Watson hoch in die Luft. Je mehr er sich bemühte, sich aus dem Sumpf zu befreien, desto weiter sank er ein. Er betrachtete die Masse
Weitere Kostenlose Bücher