Brandbücher - Kriminalroman
taten, Trollinger oder Riesling, je nach Jahreszeit und Stimmung.
»Tante Katharina ist in einem winzigen Ortsteil aufgewachsen«, fuhr Karina fort.
»Bauernschaft nannte man das damals«, unterbrach Martin Kleine und wischte sich den Schaum vom Mund.
»Dann eben Bauernschaft. Da hat es nicht viele Kinder gegeben, hat Frau Oenning gesagt. Deshalb waren sie alle in einer Klasse. Es gab acht Bankreihen. In der ersten Reihe saßen die Erstklässler, in der zweiten die Zweitklässler und so weiter. Nach den Sommerferien rückten die Schüler eine Reihe nach hinten. Ob daher wohl der Begriff Sitzenbleiben kommt? Die Kinder blieben ja buchstäblich auf ihren Stühlen sitzen.« Karina kuschelte sich in ihren Sessel und zog die Decke enger, die sie trotz des Kamins um sich gelegt hatte.
»Damals begann das Schuljahr nach den Osterferien«, korrigierte Martin Kleine sie. Als er ihren genervten Blick über die neuerliche Verbesserung sah, fügte er hinzu: »Mein ältester Bruder ging zur Schule, als der Schuljahresbeginn umgestellt wurde. Er hat immer damit angegeben, dass er zwei Kurzschuljahre hatte. Das eine Schuljahr ging von April bis Ende November und das nächste von Dezember bis Juli.« Martin Kleine schwieg und dachte nach. »Mein Bruder ist im Januar 1960 geboren, dann muss das 1966 und 1967 gewesen sein. Meine Schwester, die zwei Jahre jünger ist, hatte kein Kurzschuljahr.«
»Solche Schuljahre hätte ich auch gerne gehabt.« Karina grinste. »So ein Schuljahr dauerte ja gerade mal ein halbes Jahr. Kein Wunder, dass Ihr Bruder damit angegeben hat. Wann sind Sie denn geboren?« Die Frage war Karina so herausgerutscht. Erschrocken schlug sie die Hand vor den Mund.
Doch Martin Kleine lachte. »Nicht, dass Sie denken, ich wäre auch schon so alt – ich bin ein Nachkömmling, wie man hier so schön sagt. Meine Mutter war 20 bei der Geburt meines Bruders und 42, als ich zur Welt kam. Um ganz genau zu sein, wurde ich genau an dem Tag geboren, als meine Schwester ihren Abiball hatte. Die Zeugnisvergabe hat meine Mutter noch mitbekommen und dann ist sie gleich ins Krankenhaus gerast.«
Karina hatte blitzschnell ausgerechnet, dass Martin Kleine drei Jahre älter war als sie. Der passende Altersunterschied, hätte ihre Großmutter gesagt. Karina versuchte, ihr Schmunzeln über diesen Gedanken zu verbergen.
»Warum lachen Sie?«, erkundigte sich Pfarrer Kleine und sah sie an.
Karina wich dem Blick aus. »Ach nichts«, entgegnete sie schnell und berichtete weiter über das Gespräch mit der Mitschülerin ihrer Tante. »Frau Oenning weiß irgendetwas darüber, warum Tante Katharina nicht hier geblieben ist, da bin ich sicher«, sagte sie. »Ich glaube, sie wollte nichts dazu sagen, weil dieser komische alte Mann uns die ganze Zeit beobachtet hat. Er hat genau zugehört, was sie gesagt hat. Sie hat immer wieder unauffällig in seine Richtung gesehen.«
»Das war der alte Krämer. Der kommt zu jeder Beerdigung. Manchmal steht er am Grab, wenn alle weg sind, und murmelt etwas von Zähnen.« Martin Kleine beugte sich vor. Ihr wurde warm. Sie wollte wegsehen, aber ihre Augen gehorchten ihr nicht, als würde Martin sie hypnotisieren.
Wenigstens der Mund funktionierte, so konnte sie mehr stammeln als sprechen: »Frau Oenning hat etwas davon gesagt, dass er genug an Zähnen verdient hat. Aber wie ein Zahnarzt sieht er nicht aus.« Karina stand auf und legte im Kamin Holz nach.
Martin Kleine schüttelte den Kopf und löste seinen Blick von Karina. »Soviel ich weiß, ist der Krämer Handwerker. Er hatte früher ein Amt in der Kolpingsfamilie und da wurden damals nur Handwerker aufgenommen, als es noch ein reiner Gesellenverein war.«
Karina rückte ihren Sessel ein wenig beiseite, ehe sie sich wieder hinsetzte. So saß Martin Kleine nicht mehr neben, sondern fast hinter ihr. Sie kuschelte sich in den Sessel, zog die Beine an und stopfte die Decke um sich.
»Frau Oenning hat mir erzählt, dass meine Tante nach der Schule zuerst bei einem Arzt gearbeitet hat. Sie wusste sogar, wie er hieß. Raten Sie mal?« Karina drehte sich leicht zu Martin Kleine um und bemerkte, dass er sie schon wieder mit diesem Hypnoseblick ansah. Schnell wandte sie den Kopf zurück.
»Keine Ahnung«, antwortete Martin Kleine.
»Schulze-Möllering«, sagte Karina und streckte die Beine auf den Boden. Mit dem ganzen Körper schob sie den Sessel zurück. Es war doch unbequem, wenn der Gesprächspartner hinter einem saß. »Der Name taucht auf einer
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