Brandbücher - Kriminalroman
einem Juden kaufen? Bloß, weil er in eine andere Kirche geht? Diesen Teil von Hitlers Politik verstehe ich nicht. Dass er dafür sorgt, dass die Leute wieder Arbeit bekommen, das ist ja gut. Aber wieso muss er dabei Juden arbeitslos machen?
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Ich habe nicht bemerkt, dass Gerhard sich neben mich gestellt hat, als ich die Zettel abgerissen habe. »Sei froh, dass sonst niemand vorbeigekommen ist«, hat er mir ins Ohr gezischt. Als ich mich umdrehte, torkelten zwei Männer im Zickzack über die Straße und brüllten laut: »Heute kleb ich, morgen hau ich und übermorgen holen wir der Juden ihr Kind!«
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Mir fiel sofort ein, wie ich unserem kleinen Anton ›Rumpelstilzchen‹ vorgelesen habe. ›Heute koch ich, morgen brau ich und übermorgen hol ich der Königin ihr Kind!‹ Die Stelle habe ich immer besonders langsam und betont gelesen. Anton hat sich dann an mich gekuschelt, weil er Angst bekommen hat. Am liebsten hätte ich mich an Gerhard gekuschelt, doch die Männer kamen immer näher.
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»Weg hier«, hat Gerhard geflüstert und mich am Arm gezogen. Ich habe nur die Straße runter gestarrt und versucht, die Männer mit meinen G e danken zu verjagen. Irgendwann habe ich Bruno Schulze-Möllering erkannt. Er mich wohl auch, denn er hat gerufen: »Guck mal, das Judenliebchen!« Zum Glück hat Samuel in dem Moment die Ladentür geöffnet. Gerhard hat mich in den Laden geschubst und sich selbst an Samuel vorbeigedrängt.
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»Schließ die Tür ab!«, hat Gerhard Samuel be f ohlen. Samuel hat ohne ein Wort die Tür abgeschlossen, und Gerhard hat uns beide in den hinteren Raum geschoben, den man von außen nicht sehen kann. Aber ich wusste ja, dass Bruno den Raum kennt und konnte nicht mehr aufhören zu zittern. Ich zittere schon wieder, aus Angst, wie es weitergeht, wenn jemand wie Bruno, der Priester werden will, mich »Judenliebchen!« nennt und dabei auf den Boden spuckt.
Als es an der Tür klingelte, saß Karina an ihrem Netbook, um eine Liste mit den Namen zu erstellen, die ihr bisher begegnet waren. Im Hintergrund lief ein Schwarz-Weiß-Film mit Marlene Dietrich: ›Der blaue Engel‹. Ein Film aus den 30er-Jahren passte gut zu ihrer Recherche, fand sie.
Martin Kleine stand vor der Tür. »Ich habe etwas gefunden, das Sie interessieren wird«, platzte er heraus, ohne sich mit Begrüßungsformalitäten aufzuhalten.
Karina wusste nicht, worüber sie sich mehr freuen sollte, dass sie neue Informationen bekam, dass sie einen Verbündeten bei ihrer Recherche hatte oder dass dieser Verbündete gut aussah, gut roch und unglaublich sympathisch war. »Setzen Sie sich doch.« Hastig räumte sie die Papierstapel von dem zweiten Sessel vor dem Kamin. »Darf ich Ihnen etwas anbieten?« Sie musste über sich selbst lachen. »Entschuldigung, ich klinge schon wie meine Mutter. Trinken Sie ein Glas Wein mit?«
Martin Kleine schüttelte den Kopf. »Lieber nicht, ich hatte heute schon Messwein und man weiß ja nie. Aber einen Kaffee oder Tee würde ich nehmen.«
Während Karina den Tee aufgoss, blickte er auf die Übersicht auf ihrem Bildschirm. Doktor Schulze-Möllering stand da oben und darunter die Namen seiner drei Kinder Bruno, Johannes und Wilhelmine, von der sie inzwischen herausgefunden hatte, dass sie mit einem Heinrich Tengelkamp verheiratet war, dem Vater von Jo Tengelkamp. Der Verleger war also ein Enkel jenes Doktors, den Karinas Großtante auf ihren Karten erwähnte.
»Komisch, dass Hanno Möllering den Namensteil Schulze abgelegt hat«, bemerkte Martin Kleine, als Karina mit zwei Teebechern neben ihn trat.
»Das ist mir auch aufgefallen, ich wäre gar nicht darauf gekommen, dass die verwandt sind, wenn ich nicht irgendwo einen Nachruf gelesen hätte, in dem stand, dass Hanno die Praxis seines verstorbenen Vaters übernommen hat, die schon sein Großvater eröffnete. Die Ähnlichkeit der Vornamen Johann, Johannes, Hanno und das Möllering haben mich dann überzeugt«, erklärte Karina. »Frau Reinermann hat mir das bestätigt«, fuhr sie eifrig fort. »Sie ist in der Nähe der Praxis aufgewachsen und kannte Bruno Schulze-Möllering als Jungen. Bis sie in das Seniorenheim gezogen ist, hat Johanna Reinermann in dem Haus ihrer Eltern in der Mühlenstraße gewohnt.«
»Da haben Sie ganz schön viel herausbekommen«, lobte Martin Kleine und schickte ein Lächeln über den Teebecher, das Karina durch den ganzen Körper fuhr.
Karina lächelte vorsichtig zurück. Gleichzeitig stellten
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