Brandbücher - Kriminalroman
würden. Beide nickten.
»Dat häb ke mie dacht«, sagte die Frau. Sie hielt Karina die Hand hin. »Ick bün Lisbeth Oenning.« Die Frau stockte kurz und fuhr dann auf Hochdeutsch fort: »Elisabeth Oenning. Ich bin mit Ihrer Tante zur Schule gegangen.«
Karina schätzte die Frau höchstens auf 80. Ihre Tante wäre in wenigen Monaten 100 Jahre alt geworden.
Elisabeth Oenning lachte, als sie die Verblüffung in Karinas Gesicht erkannte. »Ich bin 94«, sagte sie. »Als ich in die Schule kam, war Katharina schon eine von den Großen. Sie durfte hinten sitzen, als ich ganz vorn sitzen musste. Das war kein guter Platz. Der Lehrer hat alles gesehen, was man falsch gemacht hat. Die Großen hatten es besser, die konnten ihre Fehler schnell mit dem Schwamm wegwischen. Bevor Herr Hasenkamp etwas merkte. Ich war damals die Erste, die das E schreiben konnte. War ja kein Wunder, war ja der erste Buchstabe von meinem Namen.«
»Lisbeth!« Der Mann mit den eingeklappten Lippen stieß die Frau mit seinem Gehstock an. »Dat interessärt de Deern doch nich, wie dat bie die in de Schole wass!«
Karina stimmte ihm in Gedanken zu. Laut sagte sie: »Das ist ja interessant. Wie war meine Großtante denn so?« Als sie das Leuchten sah, das über das Gesicht der Frau ging, fuhr sie fort. »Wissen Sie auch, warum sie weggegangen ist und was 1933 geschehen ist?«
»Lott doch de ollen Tieden!«, schnaubte der zahnlose Mann, so gut es ohne Zähne ging. Dabei stieß er mit seinem Stock auf den Sandboden des Friedhofs. »Komm met!«, zischte der Mann Elisabeth Oenning zu, während er sich wegdrehte und murmelte: »Ümmer de ollen Tieden!«
Karina sah, dass die alte Frau zögerte, ob sie dem Mann folgen sollte. Dann hakte sie sich bei Karina ein.
»Ach, hören Sie nicht auf den!«, tröstete sie Karina. »Der weiß schon, warum er so ist, wie er ist, und dass er keine Zähne mehr im Mund hat, geschieht ihm grad recht. Hat schließlich genug an Zähnen verdient und erst am Zahngold. Damals!«
Karina sah ihre Begleiterin verwundert an, doch ehe sie nachfragen konnte, was es mit den Zähnen auf sich hatte, schlug Elisabeth Oenning vor: »Kommen Sie doch einfach mit zum Kaffee.« Ohne eine Antwort abzuwarten, schob sie Karina zum Ausgang des alten Friedhofs.
Karina versuchte, sich zwischen den Grabsteinen zurechtzufinden. Irgendwo musste das Grab der Großeltern sein. Die Großtante hatte darauf bestanden, dass sie in Frankreich beerdigt wurde. Obwohl sie zurück in ihre Heimat gekommen war, wollte sie hier nicht begraben sein.
Ihr Vater hatte sich furchtbar geärgert, er hing zwar nicht an seiner Heimatstadt, aber die Forderung, die seine Tante in ihrem Testament hinterlegte, fand er übertrieben.
»Selbst Sally Landau, einer der Juden, den sie vertrieben haben und der sicher einiges mitgemacht hat, wollte hier begraben werden«, hatte er geschimpft. Allerdings konnte er nichts gegen die Forderung der Tante tun, die den Begräbniswunsch zur Bedingung für die Erbschaft gemacht hatte.
Karina hatte das völlig vergessen. Sie hatte dem keine Bedeutung beigemessen, aber jetzt bot es einen Hinweis darauf, was hier in den 30er-Jahren geschehen war. Erstaunlich, dass ihr Vater das wusste. Er hatte nie den Eindruck vermittelt, dass er sich besonders für die Stadt oder gar die Juden in der Stadt interessierte. Vor einigen Jahren war er mit ihr zu einer Lesung der Schwester von Willi Graf gegangen, einem Mitglied der Weißen Rose. Aber über den Nationalsozialismus in seiner Heimatstadt hatte er nie gesprochen. Ob er sich sorgte, dass seine Eltern Nazis gewesen waren? Immerhin war sein Onkel Kommunist und von den Nazis verfolgt worden. Aber das musste nichts heißen, das war Karina klar.
»Kommen Sie!« Karina hatte vergessen, dass sie auf dem Friedhof stand. Die alte Frau neben ihr stampfte abwechselnd mit den Füßen auf, um sich zu wärmen. Karina sah zurück und dachte daran, warum ihre Großtante auf einer Beisetzung in Frankreich bestand. Dort durfte man sich in seinem eigenen Garten beerdigen lassen. Tante Katharina besaß zum Erstaunen aller ein Grundstück in der Nähe von Paris, das sie als ihre letzte Ruhestätte ausgewählt hatte.
›Auf dem Friedhof kann man sich seine Nachbarn noch weniger aussuchen als im Leben‹, hieß es in dem Testament. Karina verstand, was die Verstorbene damit sagen wollte. Schon ihre Großmutter hatte manchmal über die Nachbarschaft auf dem Friedhof gemeckert, wenn sie mit ihr das Grab des Großvaters
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