Brandeis: Ein Hiddensee-Krimi (German Edition)
jedermann sichtbar.
»Vielen Dank für die Fürsorge«, sagte er.
Sie lachte.
»Ich meine es ernst. Sie sind die Einzige, die einen Gedanken daran verschwendet, wie es mir geht.«
»Das gehört zum Service«, sagte sie. »Kunde ist Kunde, und Sie sind gerade einer meiner besten.«
»Der nicht mal weiß, wie Sie heißen.«
»Sommer«, sagte sie. »Hella Sommer. Und ich kann Jahreszeitenscherze nicht ausstehen.«
»Verstehe. Und ich bin …«
»Ich weiß, wie Sie heißen.«
Klar, dachte Thiel, wie hätte es auch anders sein sollen. Hier gab es wahrscheinlich niemanden mehr, dem er sich vorstellen musste.
»Na dann«, sagte er. »Einen schönen Tag noch, Frau Sommer.«
»Ihnen auch, Herr Thiel«, sagte Hella Sommer, die Ohrringe sammelte und irgendwo am Norderende wohnte. Das hatte Thiel herausgefunden, indem er mittags genau dann den Supermarkt verließ, wenn sie für zwei Stunden ihren Tabakladen schloss und nach Hause ging.
Wenn es dunkel war, tat Thiel keinen Schritt mehr vor die Tür. Eine gewisse Schreckhaftigkeit machte ihm noch einige Tage zu schaffen, dann hörte er Geräusche wieder als das, was sie waren. Ein Knacken wintertrockenen Holzes, das Schaben rutschenden Schnees auf dem Dach, das Klopfen von Zweigen, die der Wind gegen die Fenster trieb.
Es stellte sich eine Art von Zufriedenheit ein, an der auch das Unklare, Unwägbare seiner Situation nichts änderte.
Er hatte Zeit. Er konnte warten. Auf was auch immer.
»Ich habe ihn gesehen«, sagte Marie. »Heute Vormittag, vor der Kaufhalle.« Sie hatte Leonies Siebensachen auf dem Esstisch beiseitegeräumt und ihre Unterlagen ausgebreitet. Es waren Buchungsanfragen für die kommende Saison eingegangen.
»Wen?«, fragte Pieplow, obwohl er ahnte, von wem die Rede war.
»Diesen Thiel. Er sieht ganz fürchterlich aus.« Ihr Blick ging an Pieplow vorbei auf das Kapitänsbild gegenüber den Südfenstern. Die Brigg Matilde des seligen Hermann Carl Gau. Wenn, so wie jetzt, die Sonne darauf schien, leuchteten die Segel über wild bewegter See.
»Hm«, machte Pieplow nur. Es war das erste Mal, dass Marie das Thema Thiel zur Sprache brachte, und ihm war nicht recht klar, worauf das hinauslaufen würde.
»Ist er deswegen noch hier?« Sie wischte sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht und sah ihn an. »Weil er so, wie er aussieht, nirgendwo Quartier findet?«
»Das auch«, sagte Pieplow. Das Gespräch erreichte den ersten heiklen Punkt schneller, als er gedacht hatte. Er stand auf und trat ans Fenster. Auf der Straße zogen Kinder mit Schlitten vorbei.
»Was meinst du damit?«
Er drehte sich zu ihr um, bevor er antwortete.
»Er wird auch nicht weggehen, wenn er wieder hergestellt ist.« Pieplow setzte sich zu Marie. Ihre Hände lagen auf dem Tisch nah beieinander, ohne sich zu berühren.
»Ich verstehe nicht«, sagte Marie. »Ich dachte, es war klar, dass er …«
»Er hat es sich anders überlegt«, sagte Pieplow. »Er bleibt hier.«
»Einfach so?«
Pieplow nickte. Einfach so.
»Aber es ist deine Wohnung, Daniel. Du kannst ihn doch …« Marie stutzte und zog misstrauisch die Augenbrauen zusammen. »Sag jetzt nicht, dass du damit einverstanden bist.« Sie nahm ihre Hände vom Tisch und verschränkte sie im Schoß.
Das Gespräch näherte sich dem zweiten heiklen Punkt.
»Nicht direkt einverstanden«, sagte Pieplow. »Aber was bleibt mir übrig, wenn er mich vor vollendete Tatsachen stellt? Ihn mit Gewalt in den Hubschrauber verfrachten? Außerdem …«
»Was?«
»Es sieht doch so aus, als hätten die Gemüter sich einigermaßen beruhigt. Vielleicht können sie ihn irgendwie sogar dulden. Es muss ja niemand mit ihm zu tun haben, der das nicht will.«
»Darauf kannst du lange warten«, sagte Marie. »Hier wird keiner seine Meinung ändern. Sie wollen keinen Mörder auf ihrer Insel. Ist das so schwer zu verstehen?«
»Und was, wenn er das gar nicht ist? Wenn er unschuldig ist?«
»Also wirklich, Daniel. Das ist doch eine hanebüchene Frage.«
»Sag, was wäre dann?«
Marie wich seinem Blick aus und senkte den Kopf. Drehte den Ring an ihrem Mittelfinger langsam hin und her. Zog ihn ab. Setzte ihn wieder auf.
»Behauptet er das?«, fragte sie schließlich.
»Er schwört es bei seinem Leben.«
»Und du glaubst ihm.«
»Ich wäre mir gern sicher. Aber ich bin es nicht.«
»Was willst du damit sagen?«
Pieplow zögerte kurz, bevor er antwortete. Marie zu gestehen, was er vorhatte, war das Schwerste. Dagegen würde alles andere ein
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