Brandeis: Ein Hiddensee-Krimi (German Edition)
Thiel. »Für mich war das damals ein Glück. Die hätten mit mir sonst kurzen Prozess gemacht, wenn Sie wissen, was ich meine.«
»Allerdings«, stimmte Pieplow zu. »Sieht fast aus, als hätten Sie ein Abonnement darauf.«
Thiels unverletzte Mundhälfte brachte ein schiefes Grinsen zu Stande.
»Da hilft nur eins – der Beweis, dass jemand anderem der Prozess gemacht werden müsste. Ob nun ein kurzer oder langer wäre mir persönlich scheißegal.«
»Mal angenommen, Sie wären tatsächlich unschuldig: Wie sollte das gehen – fast sechzehn Jahre nach der Tat diesen Beweis noch zu finden?«
»Wie wär’s damit, den Zeugen nochmal auf die Pelle zu rücken? Kann doch sein, dass einer dabei ist, den die Lügerei mürbe gemacht hat. Der froh ist, wenn man ihm ein bisschen zusetzt, damit er endlich mit der Wahrheit herausrücken kann.«
»So was gibt’s nur im Kino, Thiel. Ich gebe Ihnen einen guten Rat: Rücken Sie niemandem auf die Pelle. Was dabei herauskommt, haben Sie ja am eigenen Leib erfahren. Seien Sie vernünftig. Gehen Sie irgendwohin, wo man Sie nicht kennt, und fangen Sie neu an.« Pieplow griff nach seiner Jacke und stand auf.
»Genau das werde ich nicht tun.«
»Was soll das heißen?«
»Ich gehe nirgendwohin. Ich bleibe hier.« Thiel sah zu, wie Pieplow sich wieder hinsetzte.
»Ich habe schon bessere Witze gehört.«
»Es ist mein voller Ernst«, sagte Thiel. »Ich habe die Schnauze voll. Ein für alle Mal. Mir sagt keiner mehr, was ich zu tun und zu lassen habe. Ich bin hier mit demselben Recht wie jeder andere auch.« Er hob den Kopf und setzte sich aufrecht hin. Sie hatten ihm das Gesicht zerschlagen und die Rippen grün und blau getreten, das Kreuz gebrochen hatten sie ihm nicht. Es hatte seine Zeit gebraucht, bis ihm das und einiges andere klar geworden war. Dass er hier zuhause war, zum Beispiel. Dass er nicht davonlaufen würde wie ein geprügelter Hund. Dass er allein bestimmte, ob er ging oder blieb. Niemand sonst.
»Wie stellen Sie sich das vor, Thiel? In Ihr Haus
können Sie nicht, und das hier ist meine Wohnung. Sie können sich hier nicht einfach so einnisten.«
»Was spricht dagegen? Sie brauchen sie schließlich nicht, oder?«
Pieplow fühlte sich überrumpelt. Die ganze Angelegenheit lief irgendwie aus dem Ruder.
14
Das Unwetter hatte sich gelegt. Über der Insel wölbte sich ein wolkenloser, saphirblauer Himmel, und der Schneemann warf einen scherenschnittscharfen Schatten auf das Weiß des Vorgartenbeets. Pieplow hatte ihn mit Leonie gebaut, als Kästner die Tagbereitschaft übernahm und für das Wenige zuständig war, was in diesen stillen Tagen geschah. Im Wesentlichen waren das die regelmäßigen Starts und Landungen des Hubschraubers, der alles Notwendige brachte und holte, solange der Bodden nicht schiffbar und die Vitte nicht fahrtüchtig war.
Es gab wieder frisches Brot, die Regale im Supermarkt füllten sich mit Obst und Gemüse, und die Frauen mit ihren Einkaufstaschen standen vor dem Eingang in der Februarsonne, um Neuigkeiten auszutauschen.
Es waren vorzugsweise die Männer, die das ungewöhnliche Interesse von Fernsehen und Presse mit sachkundigen Geschichten von Eiswintern verschiedener Härte und Länge bedienten.
Über Thiel wurde nur gesprochen, wenn die Fremden außer Hörweite waren.
Seit er sich wieder auf den Beinen halten konnte, ging er jeden Tag von Kloster nach Vitte. An den Frauen vorbei, deren Gespräche verstummten, bis er im Supermarkt verschwunden war. An den Männern, die seinem Blick zwar nicht auswichen, aber im Leben nicht daran dachten, das Nicken zu erwidern, mit dem er sie grüßte. Im Tabakladen war das nach wie vor anders. Außer Tabak und Zeitung bekam er ein freundliches Lächeln und die Frage danach, wie es ihm ging.
Er hatte sie inzwischen genauer in Augenschein genommen. Sie war schlank, aber nicht dünn, und einen halben Kopf kleiner als er. Ihr dunkles Haar trug sie in der Mitte gescheitelt, manchmal offen, meist aber im Nacken zusammengebunden. Thiel hatte begonnen, die verschiedenen Ohrringe zu zählen, die sie trug. Elf waren es bisher.
»Sie rauchen zu viel«, sagte sie. »Das ist nicht gut für die Heilung.« Sie betrachtete ihn mit Krankenschwesterblick.
Über den geprellten Rippen hatte er den Arm in eine Schlinge aus elastischer Binde gelegt. Die Platzwunde über dem Auge war von einem Pflaster verdeckt, aber die grünblaue Fläche vom Ohr bis zur Nase und der dunkle Schorf auf der Oberlippe waren für
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