Brandeis: Ein Hiddensee-Krimi (German Edition)
Nasenwurzel.
»Heiner Thiel, der Hauptverdächtige, wurde für diesen Mord zu fünfzehn Jahren Haft verurteilt.«
Allerdings. Langsames Nicken, zustimmend geschürzte Lippen.
»Er behauptet heute noch, er sei unschuldig.«
Hochgezogene Augenbrauen, erstaunt gerunzelte Stirn.
»Und Sie haben Grund, ihm das zu glauben?«, übersetzte Ostwalds Frau.
»Keinen stichhaltigen«, gab Pieplow zu. »Es ist …« Er zögerte. Wie mochte Ostwald wohl zum Ausdruck bringen, dass er etwas lächerlich fand? »Es ist eigentlich nur eine Art Gefühl.« Zu seiner Erleichterung blieb Ostwalds Gesicht ernst, sein Blick aufmerksam. Pieplow wagte sich einen weiteren Schritt vor. Fragte, ob es damals, rein theoretisch natürlich, eventuell Ermittlungsfehler gegeben haben könnte. Falsche Spurenbewertungen zum Beispiel, oder vielleicht doch eine zu frühe Festlegung auf den verdächtigen Thiel, wie es die Verteidigung behauptet hatte?
Für ein paar Sekunden war es so still, dass Pieplow hören konnte, wie das angekündigte Schneegrieseln an den Scheiben prickelte. Dann sah er, wie Ostwald beide Hände hob, mit gespreizten Fingern und nach oben gewandten Innenflächen.
Fehler konnten immer und überall gemacht werden. Auch in Mordermittlungen.
Und nun?
Sie saßen zu dritt im zu warmen Ostwaldschen Wohnzimmer und dachten nach. Es war Ostwalds Frau, die schließlich einen ungewöhnlichen Vorschlag machte.
16
»Interessant, wahrhaftig sehr interessant!« Dass Professor Dahlke begeistert war, ließ sich sogar durchs Telefon hören. »Er spricht tatsächlich kein einziges Wort?«
»Nein«, sagte Pieplow. »Er bewegt zwar manchmal die Lippen oder holt Luft, als wollte er etwas sagen, aber er bleibt stumm.«
»Ah ja«, sagte der Professor und klang sehr ärztlich. »Aber Sie rufen mich doch sicher nicht nur an, um mir von diesem zweifellos ungewöhnlichen Gespräch zu berichten.«
»Nein«, sagte Pieplow. Er lehnte sich auf seinem Schreibtischstuhl zurück und betrachtete das ernste, etwas aufgequollene Gesicht Bill Clintons auf dem Bildschirm des Dienstcomputers. »Ich wollte Sie fragen, ob es medizinisch überhaupt möglich ist, dass jemand …«
Dahlke antwortete schneller, als Pieplow fragen konnte.
»Möglich, mein lieber Freund, möglich ist fast alles. Nun ist die Neurologie nicht mein Spezialgebiet und das Gehirn ein höchst komplexes Organ, über das wir noch betrüblich wenig wissen, aber grundsätzlich …«
Pieplow wartete geduldig, bis der Professor sich von den denkbaren Folgen einer Verletzung des Frontalhirns über Schäden an der Großhirnrinde bis zu den Auswirkungen eines Schlaganfalls auf das Sprachzentrum vorgearbeitet hatte. Reversiblen und irreversiblen. Schäden, die den Patienten dumpf und teilnahmslos machen konnten oder, was zugegebenermaßen seltener der Fall war, ihm zu ganz außergewöhnlichen Fähigkeiten verhalfen. Zum Beispiel zu einer Wahrnehmung, die weit über das Normale hinausging.
»Und da bei unserem Hauptkommissar, dessen Scharfsinn mich als Rechtsmediziner immer sehr beeindruckt hat, da bei ihm also offensichtlich die Fähigkeit zur nonverbalen Kommunikation erhalten geblieben ist, könnte er in Vernehmungen durchaus von Nutzen sein. Warum es also nicht einfach probieren?«
Genau, dachte Pieplow, warum nicht.
Er legte den Hörer auf und schaltete den Computer aus. Das Bild des amerikanischen Expräsidenten erlosch.
Pieplow hatte sich schon fast daran gewöhnt, in seinem eigenen Wohnzimmer wie ein Gast im Sessel zu sitzen und sich von Thiels Selbstgedrehten einnebeln zu lassen. Wenigstens konnte die Terrassentür einen Spalt offen stehen, weil der Nachmittag sonnig und mild war.
Thiel zog so heftig an seiner Zigarette, dass er hohlwangig wirkte.
»Die Idee ist absolut hirnrissig«, sagte er und tippte mit dem Zeigefinger gegen seine Schläfe.
»Das finde ich ganz und gar nicht«, sagte Pieplow. »Betrachten Sie es einfach als eine Art Lügendetektortest, dem Sie sich unterziehen müssen, bevor in der Sache weitere Schritte unternommen werden.«
»Unterziehen müssen … Schritte unternehmen … hört sich schwer nach Anwaltsgewäsch an. Sie wollen mir doch nicht allen Ernstes weismachen, dass es was bringt, wenn ich einem stummen Exkommissar meine Lebensgeschichte erzähle?«
»Ich mache Ihnen nichts weis, sondern einen Vorschlag. Sie haben dabei doch nichts zu verlieren, warum also wollen Sie sich nicht darauf einlassen?«
»Weil ich nicht erpicht darauf bin, diesem
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