Brandherd
Frauen ist dort.« Sie wies auf einen anderen Raum, in dem eine ganze Reihe Einzelbetten standen.
»Sie hat dort drüben am Fenster geschlafen«, sagte Dr. Ensor. Ich holte Carries Brief aus meiner Handtasche und las ihn erneut. Beim fünften Absatz hielt ich inne:
LUCY-BOO in TV-Kanal Vier. Flieg durchs Fenster. Komm mit wir.
Hey, Scheißbulle, steh früh auf. Ich lach und sing. Selbes Ding.
LUCY LUCY LUCY und wir!
Plötzlich fiel mir das Videoband von Kellie Shephard ein und die Schauspielerin in Venice Beach, die kleine Rollen in Fernsehfilmen gespielt hatte. Ich dachte an Fototermine und Produktionsteams, und meine Überzeugung wuchs, dass da ein Zusammenhang bestand. Doch was hatte Lucy damit zu tun? Warum sollte Carrie Lucy im Fernsehen gesehen haben? Oder ging es einfach nur darum, dass sie irgendwoher wusste, dass Lucy fliegen konnte, Hubschrauber fliegen konnte?
Hinter einer Ecke wurde Lärm laut, und dann erschien eine Gruppe Patientinnen, die vom Sport zurückkehrten, gefolgt von weiblichen Aufsichtskräften. Sie ware n verschwitzt und laut, hatten verzerrte Gesichter. Eine von ihnen wurde in einer so genannten aggressionsvorbeugenden Maßnahme eskortiert. Das preventive aggressive device, kurz PAD, war der politische korrekte Ausdruck für eine Fesselung, bei der Hand- und Fußgelenke an einen dicken Lederriemen gebunden waren, der um die Taille lief. Sie war eine junge Weiße, deren Augen sich wild verdrehten, als sie versuchte, ihren Blick auf mich zu richten, während der Mund sich zu einem kläglichen Lächeln verzog. Mit ihrem gebleichten Haar und dem bleichen androgynen Körper hätte sie Carrie sein können, und für einen Augenblick dachte ich es tatsächlich. Mich überlief es kalt, als ihre Pupillen zu wirbeln und mich anzusaugen schienen, während die Patientinnen an uns vorbeidrängten und es darauf anlegten, mich anzurempeln.
»Sind Sie Anwältin?« Eine dicke Schwarze spie die Worte geradezu aus, während sie einen hasserfüllten Blick auf mich warf.
»Ja«, sagte ich und erwiderte ihren Blick, ohne eine Miene zu verziehen, denn ich hatte schon vor langer Zeit gelernt, mich von Menschen, die hassen, nicht einschüchtern zu lassen.
»Kommen Sie.« Die Anstaltsleiterin zog mich weiter. »Ich hatte ganz vergessen, dass sie um diese Zeit raufkommen. Tut mir Leid.«
Ich war jedoch froh über den Zwischenfall. In gewissem Sinne hatte ich Carrie ins Auge geblickt und war ihr nicht ausgewichen.
»Erzählen Sie mir doch bitte genau, was an dem Abend passiert ist, als sie verschwand«, sagte ich.
Dr. Ensor tippte wieder einen Nummerncode ein und stieß ein weiteres Paar hellroter Türen auf.
»Soweit es sich rekonstruieren lässt«, antwortete sie, »is t Carrie mit den anderen Patientinnen zu einer solchen Sportstunde rausgegangen. Dann wurden ihre Snacks geliefert, und beim Abendessen war sie verschwunden.«
Wir fuhren mit dem Fahrstuhl nach unten. Sie blickte auf die Uhr.
»Wir haben sofort die Suche eingeleitet und die Polizei verständigt. Keine Spur von ihr, und das hat mir seither keine Ruhe gelassen«, fuhr sie fort. »Wie konnte sie am helllichten Tage die Insel verlassen, ohne dass sie irgendwer gesehen hat? Wir hatten Polizisten, wir hatten Hunde, wir hatten Hubschrauber ...«
Ich unterbrach sie und blieb mitten auf dem Flur im Erdgeschoss stehen.
»Hubschrauber?«, sagte ich. »Mehr als einen?«
»O ja.«
»Sie haben sie gesehen?«
»Sie waren ja kaum zu übersehen«, antwortete sie. »Sie kreisten und schwebten doch stundenlang über uns, die ganze Klinik war in Aufruhr.«
»Beschreiben Sie die Hubschrauber bitte«, sagte ich, während mein Herz zu hämmern begann.
»Du liebe Güte«, sagte sie. »Erst drei Polizeihubschrauber, und dann sind die Medien über die Insel hergefallen wie die Hornissen.«
»War einer der Hubschrauber zufällig klein und weiß? Wie eine Libelle?«
Sie blickte überrascht.
»Ich erinnere mich, so einen gesehen zu haben«, sagte sie. »Ich dachte, das sei so ein Pilot, den das ganze Treiben neugierig gemacht hatte.«
22
Lucy und ich verließen in einem heißen Wind und bei niedrigem Luftdruck, der den Bell JetRanger träge machte, Ward's Island. Wir folgten dem East River und flogen durch den Luftraum B weiter bis La Guardia, wo wir gerade lange genug am Boden blieben, um aufzutanken und Käsekräcker und Mineralwasser aus dem Automaten zu kaufen. Außerdem rief ich die Universität von Wilmington an. Diesmal wurde ich mit der
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