Brandherd
angerufen hatte, rief er um Mitternacht endlich selbst an.
»Kay?«
»Hast du's gehört?«, fragte ich erbittert. »Was Carrie gemacht hat?«
»Du sprichst von ihrem Brief?«
»Verdammt, Benton. Verdammt noch mal.«
»Ich bin in New York«, sagte er zu meiner Überraschung. »Das Bureau hat mich hergerufen.«
»Na gut. Da tun sie auch recht dran. Du kennst Carrie schließlich.«
»Leider.«
»Ich bin froh, dass du dort bist«, rief ich erleichtert. »Das kommt mir irgendwie sicherer vor. Ist das nicht die schiere Ironie? Seit wann ist man in New York sicherer?«
»Du klingst sehr aufgeregt.«
»Weißt du inzwischen irgendwas über ihren Aufenthaltsort?«
Ich schwenkte schmelzende Eiswürfel in meinem Glas.
»Wir wissen, dass sie ihren letzten Brief aus einem Bezirk mit der Postleitzahl 10036 abgeschickt hat, das ist Times Square. Der Stempel ist vom 10. Juni, also von gestern.«
»Dem Tag, an dem sie geflohen ist.« »Ja.«
»Und man weiß immer noch nicht, wie sie das gemacht hat.«
»Nein, immer noch nicht«, sagte er. »Es ist, als hätte sie sich über den Fluss gebeamt.«
»Nein, das bestimmt nicht«, sagte ich, müde und verstimmt. »Jemand hat sich um alles gekümmert und ihr wahrscheinlich geholfen. Sie hat sich schon immer darauf verstanden, Menschen für ihre Zwecke einzuspannen.«
»Die Abteilung Profiling hat unzählige Anrufe bekommen«, sagte er. »Allem Anschein nach hat sie flächendeckend zugeschlagen - an sämtliche großen Zeitungen geschrieben, inklusive Post und New York Times.«
»Und?«
»Und? Das ist ein allzu saftiger Brocken, als dass sie ihn in den Papierkorb werfen würden, Kay. Die Jagd auf sie hat Ausmaße angenommen wie beim Unabomber oder Cunanan, und jetzt schreibt sie an die Medien. Diese Geschichte wird ein Selbstläufer. Herrgott, die werden ihren Einkaufszettel abdrucken und ihre Rülpser im Radio übertragen. Für die ist sie Gold wert. Sie ist doch wie gemacht für die Titelseiten von Illustrierten, die ersten Drehbücher werden bereits geschrieben.«
»Ich will nichts mehr hören«, sagte ich.
»Ich vermisse dich.«
»Das würdest du nicht, wenn du in diesem Augenblick in meiner Nähe wärst, Benton.«
Wir sagten einander gute Nacht, und ich schüttelte das Kopfkissen in meinem Rücken auf und spielte mit dem Gedanken an einen weiteren Whiskey, ließ es dann abe r lieber. Ich versuchte mir vorzustellen, was Carrie tun würde, und der verschlungene Pfad führte stets zu Lucy zurück. Irgendwie galt Carries ganzes Sinnen und Trachten Lucy, weil sie von Neid zerfressen war. Lucy war begabter, anständiger, überhaupt einfach besser, und Carrie würde nicht rasten und ruhen, bis sie sich diese energiegeladene Schönheit einverleibt und ihr den letzten Tropfen Lebens herausgesogen hätte. Mir wurde allmählich klar, dass es dazu nicht einmal Carries Anwesenheit bedurfte. Wir alle bewegten uns unaufhaltsam auf sie zu wie auf das schwarze Loch, und ihr Sog war erschreckend groß.
Mein Schlaf war qualvoll, und ich träumte von Flugzeugabstürzen und blutdurchtränkten Laken. Erst war ich in einem Auto und dann in einem Zug, und irgendwer war ständig hinter mir her. Als ich aufwachte, war es halb sieben, die Sonne kündigte sich an einem königsblauen Himmel an, und Pfützen blitzten im Gras. Ich nahm meine Pistole mit ins Bad, verschloss die Tür und ging kurz unter die Dusche. Als ich das Wasser abdrehte, horchte ich, um mich zu vergewissern, dass meine Alarmanlage sich nicht eingeschaltet hatte, und dann überprüfte ich die Alarmkontrolle in meinem Schlafzimmer, um sicherzugehen, dass die Anlage noch in Funktion war. Gleichzeitig war ich mir bewusst, wie paranoid und geradezu irrational mein Verhalten war. Doch ich konnte es nicht ändern. Ich hatte Angst. Auf einmal war Carrie überall. Sie war die dünne Frau mit Sonnenbrille und Baseballmütze, die meine Straße entlangging, oder der Fahrer, der dicht hinter mir an die Mautstelle fuhr, oder die Obdachlose in ihrem formlosen Mantel, die mich anstarrte, als ich die Broad Street überquerte. Sie war jede Weiße mit Punkhaarschnitt und Body Piercing, jede irgendwie geschlechtsunspezifisch oder merkwürdi g gekleidete Person, und dabei musste ich mir immer wieder in Erinnerung rufen, dass ich Carrie mehr als fünf Jahre nicht gesehen hatte. Ich hatte keine Ahnung, wie sie jetzt aussah, und würde sie höchstwahrscheinlich gar nicht erkennen, bis es zu spät wäre.
Das Tor der Tiefgarage war geöffnet, als ich
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