Brandherd
doch auch das Gegenteil nicht beschwören. Mit Sicherheit war der Kopf, als wir die Leiche gefunden hatten, nicht intakt gewesen, und wenn eine Skalptrophäe gewöhnlich den Großteil des Schädels mit einbeziehen mochte, so konnte sie doch auch in einer einzigen abgeschnittenen Haarlocke bestehen. Ich nahm den Telefonhörer mithilfe eines Handtuchs auf, weil ich mit meinen Händen nichts Sauberes anfassen konnte. Ich wählte die Nummer von Marinos Pager. Zehn Minuten wartete ich auf seinen Rückruf, während ich behutsa m weiter schabte. Ich fand jedoch keine weiteren Spuren. Das bedeutete selbstverständlich nicht, dass es keine weiteren Verletzungen gegeben hatte, denn wenigstens ein Drittel der zweiundzwanzig Schädelknochen waren weggebrannt. Fieberhaft überlegte ich, was als Nächstes zu unternehmen wäre. Ich riss mir die Handschuhe herunter, schleuderte sie in den Abfalleimer und durchblätterte gerade mein Adressbuch, als Marino anrief.
»Wo zum Teufel stecken Sie?«, fragte ich, während der Stress einen Adrenalinstoß durch meinen Körper sandte.
»Im Liberty Valance beim Essen.«
»Danke für den schnellen Rückruf«, sagte ich gereizt.
»Mensch, Doc. Der Anruf muss irgendwo im All verschütt gegangen sein, denn ich habe ihn gerade erst erhalten. Was ist denn verdammt noch mal los?«
Ich hörte die Hintergrundgeräusche von Menschen, die tranken und Essen genossen, das garantiert deftig und kalorienhaltig und entsprechend schmackhaft war.
»Sind Sie in einer Telefonzelle?«
»Ja, und ich habe dienstfrei, nur dass Sie's wissen.«
Er nahm einen Schluck von etwas, das nur Bier sein konnte.
»Ich muss morgen nach Washington. Es hat sich etwas Wichtiges ergeben.«
»Uh, so was höre ich aber gar nicht gern.«
»Ich habe noch etwas entdeckt.«
»Sie werden's mir erzählen, oder muss ich die ganze Nacht im Zimmer auf und ab gehen?«
Er hatte getrunken, und ich wollte jetzt nicht mit ihm darüber sprechen.
»Hören Sie, können Sie mit mir kommen, vorausgesetzt , dass Dr. Vessey für uns Zeit hat?«
»Der Knochenmensch am Smithsonian?«
»Ich rufe ihn zu Hause an, sowie ich aufgelegt habe.«
»Ich habe morgen dienstfrei, also kann ich Sie wohl irgendwie unterbringen.«
Ich sagte nichts, während ich auf den köchelnden Topf starrte und die Wärmezufuhr ein klein wenig herunterschaltete.
»Mit einem Wort, Sie können auf mich zählen«, sagte Marino und trank erneut.
»Holen Sie mich zu Hause ab«, sagte ich. »Um neun.«
»Ich werde da sein, gestiefelt und gespornt.«
Als Nächstes wählte ich Dr. Vesseys Privatnummer in Bethesda, und er nahm nach dem ersten Läuten ab.
»Gott sei Dank«, sagte ich. »Alex? Kay Scarpetta.«
»Welche Überraschung! Wie geht's Ihnen?«
In den Augen gewöhnlicher Sterblicher, die ihr Leben nicht damit zubrachten, Menschen wieder zusammenzusetzen, wirkte er immer ein wenig abgehoben und unpraktisch. Dr. Vessey war einer der angesehensten Kriminalanthropologen der Welt, und er hatte mir schon viele Male geholfen.
»Mir wird's gleich wesentlich besser gehen, wenn Sie mir sagen, dass Sie morgen in der Stadt sind«, sagte ich.
»Ich stehe morgen mit Sicherheit im Geschirr.«
»Ich habe eine Kerbe an einem Schädel und brauche Ihre Hilfe. Ist Ihnen der Brand von Warrenton ein Begriff?«
»Wie könnte er nicht?«
»Gut. Dann verstehen Sie.«
»Vor zehn werde ich nicht da sein, und Parkplätze gibt's auch nicht«, erklärte er. »Neulich hatte ich es mit eine m Sauzahn zu tun, an dem noch Aluminiumfolie klebte«, begann er geistesabwesend zu erzählen. »Ich nehme an, von einem Spanferkel, dessen Reste irgendwer im Garten verbuddelt hatte. Der Untersuchungsrichter von Mississippi hatte Mord dahinter vermutet, irgendeinen Kerl, dem man in den Mund geschossen hatte.«
Er hustete und räusperte sich laut. Ich hörte ihn irgendetwas trinken.
»Mir kommen immer noch gelegentlich Bärentatzen unter«, fuhr er fort, »die andere Untersuchungsrichter für menschliche Hände halten.«
»Ich weiß, Alex«, sagte ich. »Nichts hat sich geändert.«
8
Marino fuhr zeitig, um Viertel vor neun, in meine Einfahrt, weil er Kaffee und was zu essen wollte. Offiziell war er nicht im Dienst und trug daher Bluejeans, ein T-Shirt der Polizei von Richmond und Cowboystiefel, die ihre beste Zeit längst hinter sich hatten. Das wenige über die Jahre verbliebene Haar hatte er nass zurückgekämmt, und nun sah er aus wie ein bierbäuchiger, alter Junggeselle, der seine Freundin
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