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Brandwache

Brandwache

Titel: Brandwache Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Connie Willis
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Kanada,
oder?«
    Diesmal war es die Eisenbahn, nicht die Küche; aber das hielt
Großmutter nicht davon ab, für die Vorhänge Maß
zu nehmen, als habe sie die Verwandlung nicht wahrgenommen. »Wie
können diese Züge nur fahren, wo es die ganze Zeit
über schneit?« Großmutter würdigte sie keiner
Antwort. Sie fuhr fort, mit ihrem langen, gelben Maßband die
breiten gekurvten Zugfenster zu vermessen. Sie schrieb die Maße
auf kleine Zettel, die ihr wie die Schneeflocken draußen
lautlos aus den Taschen stoben.
    Daisy wartete, bis es wieder die Küche war. Die roten
Kaffeehausvorhänge hingen verschossen und schlaff vor den
unteren Hälften der rechteckigen Fenster. »Die Sonne hat
die Vorhänge gebleicht; oder war es nicht die Sonne?«
fragte sie listig. Aber Großmutter ließ sich nicht
übertölpeln. Sie maß und notierte und verstreute die
Zettel wie Ascheflocken um sich’ her.
    Daisy ließ ihren Blick von Großmutter zu den anderen
wandern, die durch Großmutters Küche hin- und hertappten.
Sie hatte nicht die Absicht, sie zu fragen. Denn indem sie mit ihnen
gesprochen hätte, würde sie eingestanden haben, daß
sie hierhin gehörten; daß sie zu Recht unbeholfen durch
die Küche wuselten und aneinander stießen.
    Daisy stand auf. »Es war die Sonne, die sie
ausbleichen ließ. Ich erinnere mich«, sagte sie, ging in
ihr Zimmer und schloß die Tür hinter sich.
    Das Zimmer war immer ihr eigenes, ganz gleich, was draußen
geschah. Es blieb sich selbst gleich; das gelbe, gefältelte
Musselin auf dem Bett, die gelben Altertümchen am Fenster. Sie
hatte sich dagegen gewehrt, daß Mutter in ihrem Zimmer
Jalousien anbrachte. Daran konnte sie sich noch ganz genau erinnern.
Sie hatte den ganzen Tag hinter der verbarrikadierten Tür in
ihrem Zimmer verbracht. Aber es wollte ihr nicht mehr einfallen,
weshalb Mutter die Jalousien hatte anbringen wollen… und was
danach geschehen war.
    Daisy saß mit gekreuzten Beinen mitten auf dem Bett, das
gelbe, gefaltete Kissen gegen die Brust gedrückt. Mutter pflegte
sie ständig daran zu erinnern, daß eine junge Dame stets
mit geschlossenen Beinen zu sitzen hatte. »Du bist
fünfzehn, Daisy. Du bist eine junge Dame, ob es dir nun
gefällt oder nicht.«
    Weshalb konnte sie sich an derartige Dinge erinnern, und nicht
daran, wie sie hierhingekommen waren und wo sich Mutter befand und
warum es die ganze Zeit über schneite und doch nie kalt war? Sie
preßte das Kissen fest an sich und versuchte mit aller Macht,
sich zu erinnern.
    Es war, als stieße sie gegen etwas, das nachgiebig und
unnachgiebig zugleich war. Sie war es selbst, die versuchte, ihre
Brüste flachzudrücken, seit Mutter ihr beigebracht hatte,
daß sie erwachsen würde; daß sie einen
Büstenhalter würde tragen müssen. Sie hatte sich
bemüht, zu dem kleinen Mädchen durchzustoßen,
daß sie zuvor gewesen war; aber sosehr sie ihre Brüste
auch mit den flachen Händen in sich hineindrückte, waren
sie dennoch vorhanden. Eine Barriere, die undurchdringlich war.
    Daisy umklammerte das nachgiebige Kissen, die Augen fest
zusammengepreßt. »Großmutter kam herein«, sagte
sie laut, um die einzige Erinnerung zu beschwören, die ihr zur
Verfügung stand, »Großmutter kam herein und
sagte…«
    Daisys Blick fiel auf eines der Bücher ihres Bruders. Sie
hatte es in Händen gehalten und angeschaut; eines der
Bücher ihres Bruders über die Sonne; und als die Tür
aufgegangen war, hatte er es ihr abgenommen. Er war ärgerlich
gewesen – wegen des Buches? Großmutter war hereingekommen;
sie hatte erhitzt und erregt ausgesehen; und er hatte ihr das Buch
abgenommen. Großmutter hatte gesagt: »Sie haben den Stoff
hereinbekommen. Ich habe genug für alle Fenster gekauft.«
Sie hatte einen Sack voll gefalteten Tuches bei sich gehabt,
rotweißes Gingan. »Ich habe fast den ganzen Ballen
gekauft«, hatte Großmutter gesagt. Ihr Gesicht war
gerötet gewesen.
    »Ist er nicht hübsch?« Daisy hatte das zarte, feine
Gewebe befühlt. Und dann…
    Daisy umkrallte das Kissen und zerknautschte den gefältelten
Stoff. Sie hatte das zarte, feine Gewebe befühlt; und
dann…
    Es war sinnlos. Es gelang ihr nicht, weiter vorzustoßen. Sie
war niemals fähig gewesen, weiter vorzustoßen. Manchmal
hatte sie tagelang auf ihrem Bett gesessen. Manchmal hatte sie mit
dem Ende angefangen und sich durch ihre Erinnerungen
zurückgearbeitet; und der Effekt war derselbe gewesen. Sie kam
nicht weiter; nach beiden Seiten nicht. Nur das Buch und
Großmutter,

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