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Brandwache

Brandwache

Titel: Brandwache Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Connie Willis
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Veränderungen in der Sonne
stattgefunden«, sagte Vater. »Es hat ungewohnt viele
Sonnenstürme gegeben; zu viele. Und die Sonne entläßt
mehr Neutrino-Schauer als gewöhnlich. Das sind Anzeichen
dafür, daß sie…«
    »Wie lange noch?« fragte Mutter.
    »Ein Jahr. Höchstens fünf Jahre. Die
Wissenschaftler sind sich nicht sicher.«
    »Wir müssen es aufhalten!« schrie Mutter wild, und
Daisy blickte von ihrem Platz aus in die Sonne hoch, und die Angst
ihrer Mutter belustigte sie.
    »Wir können nichts dagegen tun«, sagte Vater.
»Es hat schon angefangen.«
    »Ich werde es nicht zulassen«, sagte Mutter. »Es
darf nicht geschehen; meiner Kinder wegen. Daisys wegen. Sie hat die
Sonne immer geliebt.«
    Diese Worte ihrer Mutter erinnerten Daisy an etwas. Es handelte
sich um eine alte Photographie, auf die Mutter etwas geschrieben
hatte; einen Schriftzug mit weißer Tinte quer über den
unteren Rand. Das Photo hatte sie selbst als Kleinkind in einem
gelben Sonnenanzug gezeigt; sie erinnerte sich an die typische
eingefallene Brust und den vorstehenden Bauch sehr kleiner
Mädchen. Mit Eimerchen und Schäufelchen bewaffnet und die
Zehen in den heißen Sand eingegraben hatte sie in die Sonne
hochgeblinzelt. Die Schrift ihrer Mutter darunter lautete:
»Daisy in der Sonne.«
    Vater hatte Mutters Hand ergriffen und hielt sie fest. Er hatte
Daisys Bruder den Arm um die Schulter gelegt. Ihre Köpfe waren
wie unter einem drohenden Schlag gesenkt; als erwarteten sie den Fall
einer Bombe.
    Daisy dachte: In einem Jahr oder vielleicht auch fünf
Jahren… sicher eher in fünf Jahren… werden wir alle
wieder Kinder sein und warm und glücklich in der Sonne
sitzen.
    Sie empfand keine Angst.
     
    Es war wieder die Eisenbahn. Die Fremden wanderten durch den
langgestreckten Mittelgang des Speisewagens und stießen
gelegentlich zusammen.
    Großmutter vermaß die kleinen Fenster in der Tür
und am Ende des Waggons. Sie schaute nicht durch die Fenster auf den
ascheflockigen Schnee.
    Ihren Bruder konnte Daisy nicht erblicken.
    Ron saß an einem der mit den schweren weißen
Damastdecken bedeckten Tische, die in Speisewagen üblich sind.
Die Vase und die angelaufenen Silberbestecke waren schwer, damit sie
beim Rattern des Zuges nicht vom Tisch fielen. Ron lehnte sich in
seinem Sessel zurück und sah aus dem Fenster auf den Schnee
hinaus.
    Daisy saß ihm schräg gegenüber am Tisch. Das Herz
schlug schmerzhaft in ihrer Brust. »Hi«, sagte sie. Sie
fügte seinen Namen nicht hinzu, aus Angst, es gelänge ihr
nicht, ihn auszusprechen, wie es ihr schon einmal passiert war; und
er würde daran merken, wie furchtsam sie war.
    Er wandte ihr sein Gesicht zu und lächelte sie an.
»Hallo, Daisy-Daisy«, sagte er.
    Sie haßte ihn mit der gleichen plötzlichen
Intensität, die sie zuvor ihren Eltern gegenüber
verspürt hatte; haßte ihn wegen seiner Fähigkeit, ihr
Angst einzuflößen.
    »Was machst du hier?« fragte sie.
    Er drehte seinen Sessel ein wenig in ihre Richtung und grinste sie
an.
    »Du gehörst nicht hierhin«, erklärte sie
angriffslustig. »Ich bin nach Kanada gekommen, um bei meiner
Großmutter zu leben.« Ihre Augen weiteten sich. Das war
etwas, das sie nicht gewußt hatte, bevor sie es sagte.
»Ich habe dich nicht einmal erkannt. Du hast in einem
Gemüsegeschäft gearbeitet, als wir in Kalifornien
lebten.« Plötzlich war sie von dem, was sie sagte,
überwältigt. »Du gehörst hier nicht hin«,
setzte sie leise hinzu.
    »Vielleicht ist alles nur ein Traum, Daisy.«
    Sie sah ihn an, noch immer unmutig; ihre Brust hob und senkte sich
heftig unter dem Schock der Erinnerung. »Was?«
    »Ich sagte, daß du das alles hier vielleicht nur
träumst.« Er stützte sich mit den Ellbogen auf der
Tischplatte ab und beugte sich vor. »Du hast schon immer die
unmöglichsten Sachen geträumt, Daisy-Daisy.«
    Sie schüttelte den Kopf. »Nicht solche Träume. Sie
waren anders. Ich habe immer schöne Träume gehabt.«
Die Erinnerung kam über sie… diesmal schneller… Sie
fühlte ein inneres Beben dort, wo sich nach Auskunft des rosa
und weißen Buches ihre Eierstöcke befanden. Unversehens
war sie nicht mehr sicher, ob sie es noch bis in ihr Zimmer schaffen
würde. Sie stand auf und krallte sich an dem weißen
Tischtuch fest. »Sie waren anders.« Sie ließ das
Tischtuch los und taumelte zwischen den umherirrenden Leuten hindurch
zu ihrem Zimmer.
    »Ach; und Daisy…«, sagte Ron. Sie blieb stehen; die
Hand schon an der Türklinke; die Erinnerung

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