Brandwache
Ron.
»Was?«
»Kalt«, sagte er. »Müßte es nicht kalt
sein, wenn das geschehen wäre?«
»Was?« wiederholte sie begriffsstutzig.
»Daisy«, sagte er und lächelte sie an.
Ihr schwindelte leicht. Die nagende Furcht saß jetzt noch
tiefer in ihr und war deutlicher zu spüren.
»O«, sagte sie und lief los; rannte in Schlangenlinien
und mit flatternden Armen zwischen den anderen hindurch in ihr
privates Zimmer. Dort angekommen schlug sie die Tür hinter sich
zu und warf sich aufs Bett; preßte in der Erinnerung die Arme
vor den Bauch.
Vater hatte sie alle gemeinsam ins Wohnzimmer gerufen.
Mutter hockte auf dem äußersten Rand der blauen Couch;
die Furcht schon ins Gesicht geschrieben. Daisys Bruder hatte ein
Buch mitgebracht; er starrte blind auf die Seiten.
Es war kalt im Wohnzimmer.
Daisy trat in den einzigen Strahl Sonnenlicht und wartete. Sie
stand bereits seit einem Jahr Angst aus. Und in wenigen
Augenblicken, dachte sie, werde ich etwas hören, das
meine Angst vergrößert.
Plötzlich stieg übermächtiger Haß gegen ihre
Eltern in ihr hoch, die fähig waren, sie aus der Sonne in die
Dunkelheit zu zerren; fähig, ihr allein durch Worte Furcht
einzujagen. Heute hatte sie auf der Veranda gesessen. An jenem
anderen Tag hatte sie in ihrem alten gelben Badeanzug in der Sonne
gelegen, als Mutter sie hereinrief.
»Du bist jetzt ein großes Mädchen«, hatte
Mutter gesagt, sobald sie in ihrem Zimmer waren. Sie hatte auf den zu
klein gewordenen gelben Badeanzug geschaut, der über der Brust
und im Schritt spannte. »Es gibt ein paar Dinge, die du wissen
mußt.«
Daisys Herz hatte heftig zu schlagen angefangen. »Ich
möchte dich darüber aufklären, denn es gibt eine Menge
häßliche Gerüchte darüber.« Sie hatte ein
kleines Buch bei sich gehabt, das rot und weiß und
furchteinflößend aussah. »Ich möchte, daß
du dieses Buch liest, Daisy. Du machst eine Veränderung durch,
auch wenn du es selbst nicht merkst. Deine Brüste entwickeln
sich, und bald wird deine Periode einsetzen. Das
bedeutet…«
Daisy wußte, was es bedeutete. Die Mädchen in der
Schule hatten es ihr erzählt. Dunkelheit und Blut. Die Jungen
würden ihre Brüste anfassen und in ihre Dunkelheit
eindringen wollen. Dabei würde mehr Blut fließen.
»Nein«, hatte Daisy erwidert. »Nein. Ich will es
nicht lesen.«
»Ich weiß, daß es dir jetzt schrecklich vorkommt,
aber eines Tages… bald… lernst du einen netten Jungen
kennen, und dann wirst du begreifen…«
Nein, das werde ich nicht. Ich weiß, was Jungen mit einem
machen.
»In fünf Jahren wirst du anders darüber denken,
Daisy. Du wirst einsehen…«
Nicht in fünf Jahren. Nicht in hundert. Nein.
»Ich werde keine Brüste bekommen!« hatte Daisy
geschrien und mit dem Kissen vom Bett nach Mutter geworfen. »Ich
werde keine Periode bekommen. Ich lasse es nicht zu. Nein!«
Mutter hatte sie voller Mitleid angesehen. »Aber, Daisy, es
hat schon angefangen.« Sie hatte die Arme um sie gelegt.
»Es ist nichts, wovor du dich fürchten müßtest,
Honey.«
Daisy hatte seitdem immer Furcht gehabt. Und jetzt würde ihre
Furcht noch größer werden; sobald Vater sprach.
»Ich möchte es euch allen sagen«, begann Vater,
»damit ihr es nicht von anderer Seite erfahrt. Ich möchte,
daß ihr wißt, was wirklich geschieht, und nicht auf
bloße Gerüchte angewiesen seid.« Er hielt inne und
holte bebend Luft. Sie begannen sogar ihre Ansprachen mit denselben
Worten.
»Ich meine, ihr solltet es von mir hören«, fuhr
Vater fort. »Die Sonne ist im Begriff, zur Nova zu
werden.«
Mutter holte lange und tief Luft. Es klang wie ein Seufzer und war
der letzte ruhige Atemzug, den Mutter je getan haben sollte. Daisys
Bruder klappte sein Buch zu.
Ist das alles? dachte Daisy verwundert.
»Die Sonne hat den gesamten Wasserstoff in ihrem Inneren
verbraucht. Sie beginnt jetzt, sich selbst zu verbrennen; und wenn
das der Fall ist, wird sie sich ausdehnen; und…« Er scheute
vor dem Wort zurück.
»Sie wird uns alle verschlucken«, sagte Daisys
Bruder.
»Ich habe es in einem Buch gelesen. Der Sonnenball wird sich
explosionsartig bis zum Mars ausdehnen. Er wird Merkur und Venus und
Erde und Mars verschlucken, und wir alle werden sterben.«
Vater nickte. »Ja«, sagte er, und Daisy war erleichtert,
daß das Schlimmste ausgesprochen war.
»Nein«, sagte Mutter. Und Daisy dachte: Es ist
nichts… gar nichts. Die Reden ihrer Mutter waren schlimmer
als das hier. Blut und Dunkelheit.
»Es haben
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