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Brandwache

Brandwache

Titel: Brandwache Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Connie Willis
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die hereinkam und die Hand ausstreckte.
    Daisy machte die Augen auf. Sie legte das Kissen aufs Bett
zurück und löste die Beine voneinander und holte tief Luft.
Sie würde die anderen fragen müssen. Es ging nicht
anders.
    Sie blieb eine Weile an der Tür stehen, bevor sie sie
öffnete, und fragte sich, welcher der Orte es wohl sein
mochte.
    Es war Mutters Wohnzimmer mit seinen Wänden in kühlem
Blau und den von Jalousien verdeckten Fenstern. Daisys Bruder
saß auf dem graublauen Teppich und las in einem Buch.
Großmutter hatte eine Jalousie abgenommen. Sie war damit
beschäftigt, die hohen Fenster auszumessen. Draußen fiel
Schnee.
    Die Fremden wanderten auf dem blauen Teppich hin und her. Manchmal
glaubte Daisy, sie zu erkennen; sie glaubte, daß es Freunde
ihrer Eltern oder Leute waren, die sie auf der Schule gesehen hatte;
aber sie war sich nicht sicher. Sie redeten nicht miteinander auf
ihrer endlosen, geduldigen Wanderung. Sie schienen einander nicht
einmal zu sehen. Gelegentlich prallten sie aneinander, während
sie den langen Gang des Zuges entlang oder im Kreis durch
Großmutters Küche oder durch das blaue Wohnzimmer liefen.
Bei solchen Anlässen verlangsamten sie ihre Schritte nicht und
entschuldigten sich auch nicht. Sie schienen gar nicht zu bemerken,
daß sie einander anrempelten, sondern gingen einfach weiter.
Sie stießen geräuschlos und scheinbar ohne Gefühl
zusammen; und jedesmal, wenn sie kollidiert waren, kamen sie Daisy
weniger bekannt vor und glichen sie mehr und mehr Fremden. Sie sah
ihnen forschend in die Gesichter und gab sich alle Mühe, sie
wiederzuerkennen, weil sie ihnen Fragen stellen wollte.
    Der junge Mann war von draußen hereingekommen. Daisy war
sich dessen sicher, obwohl es keinen kalten Luftzug gegeben hatte;
keinen Schnee, den er sich von Haaren und Schultern geklopft
hätte.
    Er bewegte sich sicher durch die übrigen, und sie sahen zu
ihm auf, als er an ihnen vorbeiging. Er setzte sich auf die blaue
Couch und lächelte Daisys Bruder an, der von seinem Buch aufsah
und zurücklächelte.
    Er ist von draußen gekommen, dachte Daisy. Er wird
es wissen.
    Sie setzte sich in seine Nähe auf das Ende der Couch und
verschränkte die Arme vor der Brust. »Ist etwas mit der
Sonne geschehen?« fragte sie ihn flüsternd.
    Er blickte auf. Sein Gesicht war ebenso jung wie das ihre;
gebräunt und lächelnd.
    Daisy fühlte tief in ihrem Inneren ein leises furchtsames
Erschauern; ein schwaches Gefühl der Fremdheit wie damals, als
sich ihre erste Periode angekündigt hatte. Sie stand auf und
wich vor dem jungen Mann zurück… nur einen Schritt…
und stieß mit einem der Fremden zusammen.
    »O, hallo«, sagte der Junge. »Ist das nicht die
kleine Daisy?«
    Ihre Hände ballten sich ohne ihr Dazutun zu Fäusten. Sie
wußte plötzlich nicht mehr, wie es möglich war,
daß sie ihn nicht schon früher erkannt hatte… Die
leichte Keckheit, das unverbindliche Lächeln. Er würde sie
nicht aufklären. Er wußte Bescheid; natürlich
wußte er Bescheid; er hatte immer alles gewußt; aber er
würde es ihr nicht sagen. Er würde sie auslachen. Sie
durfte nicht zulassen, daß er sie auslachte.
    »Hi, Ron«, hatte sie eigentlich sagen wollen, aber der
letzte Konsonant gelang nur zu einem unbestimmten Laut. Sie war sich
nie sicher gewesen, wie er hieß.
    Er lachte. »Warum soll etwas mit der Sonne geschehen sein,
Daisy-Daisy?« Er hatte einen Arm über die Rückenlehne
der Couch drapiert. »Setz dich doch und erzähl mir
alles.«
    Wenn sie sich neben ihn setzte, konnte er leicht den Arm um sie
legen.
    »Ist etwas mit der Sonne geschehen?« wiederholte sie
ihre Frage und blieb vor ihm stehen. »Sie scheint niemals
mehr.«
    »Bist du sicher?« erkundigte er sich und lachte erneut.
Er sah auf ihre Brüste. Sie verschränkte die Arme
davor.
    »Ist etwas geschehen?« fragte sie hartnäckig wie
ein Kind.
    »Was glaubst du?«
    »Ich glaube, daß sich vielleicht alle über die
Sonne getäuscht haben.« Sie hielt inne; selbst
überrascht von dem, was sie gesagt hatte. Dann fuhr sie fort und
vergaß vor Verwunderung über ihre eigenen Worte, die Arme
weiter vor ihre Brüste zu halten:
    »Alle haben geglaubt, sie stünde kurz davor, zu
explodieren. Man sagte, sie würde die ganze Erde aufzehren. Aber
vielleicht war es nicht so. Vielleicht ist sie nur ausgebrannt…
wie ein Streichholz oder so was… und jetzt scheint sie nicht
mehr; und deshalb schneit es die ganze Zeit, und…«
    »Kalt«, erwiderte

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