Brann 01 - Seelentrinkerin
Luft. Geh langsam, ermahnte sie sich, benimm dich so, als ob es dich nicht im geringsten schert, was irgendwer von dir denkt. Sie umfaßte die Türklinke, ihr wurde schwach in den Knien. Sie war noch nicht soweit, hinausgehen zu können. Noch nicht. Abermals strich sie sich mit der Hand übers Haar, ihr fiel auf, daß sie vergessen hatte, sich das Kopftuch umzubinden, sie sah den langen zerknitterten Schal über der Rücklehne des Stuhls hängen. Brann trat vor den unebenen Spiegel. Weiches weißes Haar bedeckte ihr reichlich den Schädel, mittlerweile so lang, daß das Eigengewicht die Locken loser und weiter kräuselte. Es sah merkwürdig aus, aber ganz nett, es paßte zur Form ihres Gesichts. Brann erwog, ob sie aufs Umziehen des Kopftuchs verzichten sollte, es täte ihr gut, wieder einmal den Wind durchs Haar wehen zu lassen, aber so kurz, so farblos, wie es war, mußte sie zweifellos Aufsehen erregen, wenn sie auf der Handelsstraße ihres Weges ritt. Also schlang sie sich den Schal um den Kopf, verknotete ihn so, daß die Zipfel hinterm Ohr baumelten. Seltsamerweise hatte diese Umwicklung des Kopfs, die seine Umrisse hervorhob, zum Ergebnis, daß ihre Augen groß und wie Schmucksteine aussahen, ihr Mund sanfter wirkte. Ein, zwei Herzschläge lang musterte sie sich im Spiegel, strebte dann zur Tür, riß sie auf und betrat den leeren Korridor. Die übrigen Reisenden, die über Nacht hier Unterkunft genommen hatten, waren schon weitergereist oder lagen noch im Schlaf. Es war noch früh.
Langsam schritt sie über die ausgelegten Strohmatten durch den Korridor zum Treppenabsatz an dessen Ende, unterwegs fielen ihre Schritte fester, sicherer. Am Treppenabsatz betastete sie das Kopftuch, überzeugte sich davon, daß es noch richtig saß — ein Zugeständnis an ihre Unsicherheit —, bevor sie die Treppe hinabstieg.
Eine jüngere Ausgabe des Gastwirts, den sie am Vorabend gesehen hatte — die Ähnlichkeit war so groß, daß es sich um einen Sohn handeln mußte —, blickte hoch, als sie die Anmeldung erreichte. »Du wünschst, Athin?«
»Ich hätte gern etwas zu essen, Athno.«
»Selbstverständlich, Athin«, antwortete der Mann, während er einen Teil der Theke hochklappte und dahinter hervorkam, um Brann an den Tisch zu geleiten, an dem sie bereits gestern abend gegessen hatte. »Es wird ein kurzes Weilchen dauern, etwas zuzubereiten, aber es war klug, so früh aufzustehen, heute wird nämlich die Reisekutsche aus Tavisteen zwecks Frühstück bald hier halten, und mit der Verköstigung der Reisenden und ihrer Eskorte werden wir beschäftigt sein wie brütende Hennen und uns wünschen, wir hätten mehr Hände.« Brann schwieg dazu, doch er mußte aus ihrem Schweigen irgend etwas geschlußfolgert haben, er umrundete den Tisch, blieb neben ihr stehen. »Das Landfahren war nahezu unmöglich geworden, bis die Temueng damit anfingen, den Karawanen und Reisekutschen Geleitschutz zu geben. Tscha, wir haben gekochte oder gebackene Eier zu bieten, frische Semmeln oder Würstchen, besonders lecker, nach Art des Hauses, vielfach werden wir dafür gepriesen, auch wenn ich's bin, der's sagt, ist's doch die Wahrheit. Oder wie wär's mit einem schmackhaften Kotelett? Oder es käme Felswachtel in Frage oder Fisch, mein Zweitältester hat im Morgengrauen welche frisch aus'm Fluß gefangen. Als Trank kann ich dir Bier, Apfelwein, Tee oder eine Neuheit namens Kaffeh empfehlen, letzteren hat uns vor einem Monat ein Händler verkauft. Manche Gäste mögen das Getränk, mir selbst hingegen schmeckts's allzu eigentümlich.« Er wandte den Kopf, lauschte auf das gleichmäßige Herabrauschen des Regens. »Regnet's weiterhin dermaßen, wird die Landstraße alsbald überschwemmt sein, Athin. Es könnte ratsam sein, zu deinem Vorteil zu erwägen, ob du nicht bleibst, bis sich das Unwetter verzogen hat.«
Nachdem sie ihm zugehört hatte, sparte sie sich die Mühe, auf seinen versteckten Versuch, von ihren Münzen etliche für noch eine Übernachtung zu ergattern, zu antworten, bestellte einfach ein warmes, großzügig bemessenes Morgenmahl und dazu eine Kanne Tee. Sein freundliches Geplauder hatte sie beruhigt, sie verspürte jetzt bloß noch Hunger.
Ehe sie mit dem Verzehr des Frühstücks fertig wurde, kamen die Kinder herein, im einen Augenblick klatschnaß und von irgendwie verwahrlostem Aussehen, im nächsten dagegen trocken und gepflegt. Leise und ohne sich an den Blicken anderer Anwesender zu stören, die sich nach und nach in die
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