Brans Reise
gleiten. Erst jetzt bemerkte er, wie hoch das kleine Plateau am Ende des Mastes lag. Ein Junge saß dort und ließ die Beine baumeln. Der Mast war in der Mitte mit Eisenbolzen gefasst, denn er war aus zwei Stämmen zusammengesetzt worden, und jeder von diesen war höher, als Bran es jemals gesehen hatte. Am Achterende des Schiffes hing ein Stück Stoff an einer Stange gleich neben dem dicken Ruder, das am Achtersteven festgebunden war. Der Stoff war vom Regen durchnässt, doch Bran wusste, was das war. Alle Schiffe hatten das. Das waren keine Segel, sondern Flaggen, die dazu da waren, Freunden und Feinden zu verraten, wer das Schiff segelte. Bran warf einen Kornsack über die Schulter und folgte dem Mann mit dem ledernen Umhang. Während er über die schmale Planke balancierte, drohten die Windböen ihn ins Meer zu werfen. Dann aber sprang er über die Reling und stand sicher hinter den Bronzeschilden. Ein Segeltuch war über die Luke in der Mitte des Decks gespannt. Dorthin ging Bran und setzte den Sack ab. Er blieb stehen und sah den Männern zu, die wie Ameisen, einer nach dem anderen, zwischen Kai und Schiffen hin und her gingen. Das Deck stieg zum Bug und zum Heck sanft an. Jetzt sah er die Speere, die hinter den Schilden festgebunden waren. Auch Ledersäckchen waren dort befestigt, aus denen die Steuerfedern der zusammengebundenen Pfeile herausragten.
Zwei Männer sprangen von der Planke an Deck. Sie stellten sich dicht neben ihn, zogen ihre Lederkapuzen zurück und entrollten ein Pergament.
»Wir müssen rudern, wenn der Wind aus Norden bläst«, sagte der eine. Er schnaubte und wischte sich den Bart mit dem Ärmel seiner Jacke trocken. »Die Inseln geben uns für eine Weile Schutz, doch dann sind wir voll im Wind.«
»Ich steuere das Schiff nicht aus dem Schärengarten heraus, wenn der Wind nicht nachlässt.« Der andere kratzte sich an seinem blanken Schädel. »Meine Männer sollen nicht gegen den Wind anrudern!«
»Wir können hier festmachen.« Der Erste deutete auf das Pergament. »Und warten.«
»Wir sollten hier im Hafen warten.« Der Mann mit der Glatze sah zur Stadt empor. »Aber wenn die Skerge sich entschlossen haben…«
»… tun wir, was sie verlangen.« Der andere lachte und schüttelte den Kopf. Dann beugten sich die Männer erneut über die Karte.
Bran trat wieder in den Regen hinaus. Er wäre beinahe ausgerutscht, als er über die Planke ging, denn er fand mit seinen Stiefeln keinen Halt auf dem nassen Holz. Die Tirganer würden bald lossegeln. Sollte er mit ihnen gehen? Sollte er an Bord kommen und mit ihnen hinter den Bronzeschilden stehen? Er sprang auf den Kai hinunter und ging zum Lager zurück. Der Regen schlug ihm wie damals entgegen, als er zu Nojs Hütte emporgestiegen war. Bran blieb stehen und fasste sich an die Stirn. Mit einem Mal sah er die Traumbilder klar vor sich. Er sah den Kurs nach Westen, das Meer, den Strand und den Körper. Und er sah Turvi, wie er am Feuer stand und verkündete, dass Kragg drei Männern Träume gegeben habe. Dass einer von diesen Noj als Häuptling nachfolgen sollte. Er erinnerte sich an die Tage, in denen er so oft geschwommen war. Er wollte als Erster mit der Muschel zurückkommen, die sie als Beweis dafür holen mussten, dass sie die Schäre erreicht hatten. Er hatte geübt, um zu gewinnen, denn er wollte Häuptling werden. Aber hier, umgeben von Langschiffen und Türmen, schien das alles zu verblassen. Hier war er bloß ein Fremder. Und jetzt, da er die Augen schloss und sie vor sich sah, war er nicht nur fremd für die Tirganer, sondern auch für sein eigenes Volk. Denn er sollte einem anderen Gott die Treue halten, um sie zu bekommen, er sollte ein Schwert halten, das von einem anderen Volk geschmiedet worden war. Vielleicht würde er für sie sterben, und dann hätte er seine Eigenen betrogen.
Die Gedanken quälten ihn, während er über den Kai zurück zum Lager lief. Nur Turvi begegnete ihm, als er zwischen den Zelten hindurchging. Der Einbeinige saß im Schutz des Holzschuppens.
»Heute Abend«, rief er. »Wir halten Rat. Hier, am Feuer, ob es nun regnet oder nicht.«
Bran nickte. Der Einbeinige humpelte in den Regen hinaus und suchte in seinem Zelt Schutz. Bran sah zum Meer. Der Wind war kalt, kälter als er es in dieser Jahreszeit zu sein pflegte. Er zog Hemd und Jacke aus und wrang sie aus. Bald, dachte er, wird der Schnee von den Berggipfeln herabkriechen und das Tal zu Hause in der Felsenburg erreichen. Die Ebenen werden sich
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