Brans Reise
Männer töten, die er niemals zuvor gesehen hatte? Tir hatte damals im Wald darüber gesprochen. Sie hatte ihn gefragt, ob er ein Mörder sei wie Visikal. Und er hatte geantwortet. Er hatte gesagt, er habe für sie getötet.
»Komm.« Turvi hinkte auf die Tür zu. »Lasst uns gehen.«
Bran ließ seinen Becher stehen und stand auf.
Visikal ballte die Faust, als wollte er seine Stärke zeigen. »Morgen muss ich eure Antwort haben. Vor dem Abschiedsfest, denn übermorgen brechen wir auf.«
Bran drehte sich von ihm weg. Er folgte den anderen hinaus auf den Hofplatz, auf dem die beiden anderen Skerge die kämpfenden Krieger umkreisten wie Wolfsmütter ihre spielenden Welpen. Bran und seine Männer schlichen sich an der Steinmauer entlang, denn die Krieger waren so mit ihrem Tun beschäftigt, dass sie keine Anstalten machten, sie passieren zu lassen.
Bran ging den anderen an diesem Tag aus dem Weg. Er setzte sich bei den Schiffen des Felsenvolkes auf die Kaimauer und sah eine ganze Weile lang zu, wie sie in den Wellen auf und ab schwappten. Denn selbst im Schutz der steinernen Arme der Mole waren Wellen aufgekommen. Der Wind hatte seit einigen Tagen das Meer aufgepeitscht, so dass die Wellen wie ein mächtiges Heer durch die Öffnung hereindrückten. Bran ließ seinen Blick über das Meer schweifen. Er folgte den Wellen an den Inseln vorbei, die wie Schatten unter dem grauen Himmel lagen. Im Westen konnte er auf das offene Meer blicken, wo sich die Wellen mit dem Himmel vereinigten. Dort draußen, dachte er, weint das Meer. Denn die Wolken, die auf die Stadt zutrieben, kamen nicht von den Namenlosen, sondern vom Meer. Von dort, wo er saß, konnte er das ganz deutlich erkennen. Er wunderte sich darüber, dass das noch niemand bemerkt hatte. Die Wolken stiegen wie Tränen aus dem Meer auf und fegten dann vom Wind angetrieben über das Himmelszelt in Richtung Land.
Als der Regen den Hafen erreichte, drehte Bran dem Meer den Rücken zu. Er ließ die Schauer über sich ergehen, bis Hemd und Jacke auf seiner Haut klebten.
»Visikal.« Er flüsterte so leise, dass er es selbst kaum hörte. »Tir…« Die Windböen packten den Regen und schleuderten ihn wie Trommelwirbel auf den Boden. »Kragg…« Er schloss die Augen und lauschte, doch er hörte nur den Regen und das Rauschen des Meeres. »Berav«, flüsterte er dann. »Was soll ich tun?« Die Wellen schlugen im Takt mit seinen Atemzügen gegen die Mole. Bran wischte sich das Wasser und seine Haare aus der Stirn. An den Langschiffen herrschte reger Betrieb. Am Kai, auf den Decks und in den Wanten wimmelte es von Männern. Die Verkaufsstände waren Bergen von Trockenfisch, Kornsäcken und Waffen gewichen. Überall lagen zusammengebundene Speere, Pfeile mit weißen Federn und Dutzende Kisten. Und unablässig gingen Männer über die Planken, die vom Kai zu den Schiffen führten. Sie beluden die Langschiffe. Sie machen sie klar, dachte er. Denn die Tirganer wollten sich vom Sturm nicht aufhalten lassen. Sie hörten nicht auf Berav, wie er es tat. Ihr Gott hieß Cernunnos.
Bran begann, auf sie zuzugehen. Er ging zwischen Haufen von Decken hindurch, die mit Ziegenleder abgedeckt waren, um Gischt und Regen abzuhalten. Ein o-beiniger Mann watschelte, den Arm voller Lederrollen, vor ihm her, ehe er sie unter seine kurze Regenjacke schob und über die Planke auf sein Schiff kletterte. Männer mit Kapuzen hängten die Bronzeschilde an die Reling.
Niemand bemerkte Bran. Er dachte, dass sie sicher glaubten, er sei einer der ihren, denn die Kleider, die er von Tir erhalten hatte, glichen denen der anderen Männer. Doch ihm fiel auf, dass die Tirganer einander kannten und wussten, wer zu welchem Schiff gehörte. Von überall her waren Rufe und Befehle zu hören. Knaben und alte Männer hasteten mit Tauen, Schwertern und Schiffssäcken hin und her. Bran blieb bei einem Berg von Kornsäcken stehen. Nur eine Körperlänge hinter ihm endete die Kaimauer, an der dicke Tauknoten verhinderten, dass sich die Schiffsflanken an den Steinen rieben.
»Pass auf, wenn du nicht helfen willst!« Ein Mann in einem ledernen Umhang beugte sich hinunter und hob den Sack unmittelbar vor seinen Füßen an. Bran trat einen Schritt zurück. Der Tirganer warf den Sack über die Schulter, stapfte durch die Pfützen am Schiff entlang und balancierte dann über die Planke. Als er auf der anderen Seite der Reling hinabsprang und hinter den Bronzeschilden verschwand, ließ Bran seinen Blick über die Stagen
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