Brans Reise
der dritten Wache vorbeigegangen war und sich die Burgmauer langsam nach Süden zog, konnte er in eine tiefe Kluft hinunterschauen. Dort lagen die Langschiffe dicht an dicht. Er konnte sie nicht zählen, da die meisten vom Ostrand der Kluft verborgen waren. Aber es mussten viele sein. Auch diese ruhten auf einem Bett aus Sand. Lange Tangarme waren zwischen die Schiffsrümpfe gespült worden. Hagdar hatte etwas über die Gezeiten gesagt. An manchen Orten seien die Gezeiten so stark, dass ein Mann, der bei Ebbe am Spülsaum stand, bei Flut am gleichen Ort ertrinken würde.
Er fasste sich an den Nacken und rieb mit seinen Knöcheln über die Narbe. Dann fuhr er sich mit der Hand über das halbe Ohr und sah wieder aufs Wasser hinaus. Hagdar hätte diesen Ort geliebt. »Die haben da einen guten Hafen«, hätte er gesagt und sich dann am Bart gekratzt und gelacht.
Bran wandte sich gen Osten. Hagdar war jetzt vielleicht tot. »Ein See aus Blut«, hatte Tarba gesagt.
Es gab einmal eine Zeit, erinnerte sich Bran, in der er geweint hätte. Doch so viel war geschehen, seit er auf der Ebene gestanden und die Lawine beobachtet hatte, die die Felsenburg unter sich begrub. Viele Länder hatte er gesehen, seit Kraggs Schwingen die Sonne verfinstert hatten und der Himmelsvogel übers Meer davongeflogen war. Und es gab so vieles, was er nicht verstand.
Bran lehnte sich mit dem Rücken an die Brustwehr. Von hier aus konnte er bis weit ins Landesinnere blicken. Es ähnelte den weiten Flächen im Süden der Felsenburg. Die Ebene im Norden von Krett hatte wie im Frost erstarrte Wellen ausgesehen. Dies hier war ein Hügelland voller Steine, Schutthalden und steiler Klippen. Es war leicht zu erkennen, dass der Wind meistens vom Meer aus blies, denn das Buschwerk und die kleinen Bäume ballten sich im Süden hinter jeder kleinen Anhöhe zusammen. Dort draußen konnte er nicht eine einzige Hütte erkennen, und nur an wenigen Orten sah er die schwarzen Spuren von Lagerfeuern im Gras. Die Schäfer müssen sich dort gewärmt haben, dachte er, denn ein halbes Dutzend Schafsherden grasten friedlich in den geschützten Senken. Abgesehen von dem Weg, der sich in südlicher Richtung zwischen den Hügeln hindurchschlängelte, gab es keine anderen Spuren von Menschen. Es war dort draußen noch immer so öde, wie es zu der Zeit gewesen sein musste, als die Riesen fortgingen und die Burg den Seevögeln und den Völkern der Zukunft überließen. Die Männer hatten von einem Krieg und einer Schlacht gesprochen. Unfrieden hatte die Riesen auf die Ebene hinausgejagt. Und Cernunnos hatte einen todbringenden Schlag erhalten und seinen Körper irgendwo dort draußen verborgen. Selbst er, ihr mächtigster Krieger, hatte den Schmerz zu fühlen bekommen.
Turvi hätte sicher etwas dazu gesagt. Der Einbeinige hätte ihn, Bran, zu sich gerufen und ihm von den Göttern des Felsenvolkes erzählt. Bran schloss die Augen und dachte an den alten Mann, wie er seinen Rücken über die Krücke beugte, während sich sein alter Körper aus bloßem Trotz weiterschleppte. Was pflegte er über die Götter zu sagen? Der Wille der Götter, sagte er immer. Er sei es, der die Menschen leite. Denn die Götter sähen von den Berggipfeln herab, von dem Land über dem Himmelsrund und all diesen fernen Orten, an denen sie lebten. Manche Menschen gefielen ihnen, andere nicht. Und alles, was sie taten, taten sie für das Wohl alles Lebendigen. Das hatte Turvi gesagt.
Bran hob seine Schultern. Das Panzerhemd war schwer, und die Waffen drückten seinen Gürtel auf seine Hüfte. Er versuchte, in Anbetracht des Meeres auf andere Gedanken zu kommen. Das Meer aber war blank und voller Sonne und ging nicht auf seine Fragen ein, wie es ein Freund getan hätte. Bran dachte über das nach, was Turvi gesagt hatte, doch er konnte sich damit nicht abfinden. Denn je mehr er nachdachte, desto stärker schmerzte dieser merkwürdige Gedanke in ihm. Es war eher ein Gefühl als ein Gedanke, etwas, das er nur spüren, nicht jedoch in Worte fassen konnte. Es fühlte sich an wie damals als kleiner Junge, als Vater Steine auf den Boden legte und ihn bat zu zählen. Das war wie eine Beute zu wittern, ohne zu wissen, was für ein Tier es war.
»Die Götter tun alles für unser Wohl…« Bran legte seine Hände um den Steinblock, der vor ihm die Zacke der Brustwehr bildete. »Alles für unser Wohl…«
Die Götter sind wie gute Väter und Mütter, verstand er. Die Menschen sind ihre Kinder. Doch an
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