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Brans Reise

Titel: Brans Reise Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Bull-Hansen
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mit offenem Mund staunend stehen. Denn niemals zuvor hatte er Felder gesehen. Das Meer voller Gold, das sich auf der Ebene vor ihm ausbreitete, war ein gewaltiger Anblick. Am liebsten hätte er sich hingesetzt und zugesehen, wie der Wind Zeichen in das wogende Korn malte, doch die Tirganer begannen mit ihren Sensen zu mähen, ohne auch nur einen Gedanken an die Schönheit des goldenen Meeres zu verlieren. Dann begriff auch er, dass dieses Gold Nahrung für sie bedeutete. Das Korn war gesät worden, um Tirgas Einwohner durch den Winter zu bringen, und so bekam auch er eine Sense und mähte Korn.
    Er hatte jetzt acht Tage gearbeitet, und seine Füße waren wund von den scharfen Spitzen der Getreidestoppeln. Nur noch ein schmaler Streifen stand am Rand der Ebene, und wenn er sich umblickte, erkannte er den Ort, wo sich der Karrenweg über den Abhang hinunter in die Stadt stürzte. Er schätzte die Entfernung: vier Pfeilschüsse. Vier Pfeilschüsse Getreide hatte er in diesen Tagen gemäht, und er war müde. Er lehnte sich auf den Stiel der Sense. Wie jeden Tag hier oben, blies der Wind kräftig. Die Luft trug keine Wärme mehr in sich, bloß den Hauch des Winters, der bald kommen würde. Bran ließ den Blick über die dunkelgrünen, grasbewachsenen Hügel schweifen, bis sie weit dort hinten unter dem grauen Himmel verschwanden. Irgendwo dort lag das Land, das die Tirganer Nia nannten, aber das war kein Reich wie Ar. Die Menschen dort waren Nomaden und kümmerten sich nicht darum, Städte zu bauen. Niemand wusste, was sich im Süden an Nia anschloss, doch in Tirga erzählte man sich, dass die Ebene in das Land der Riesen führte.
    Bran wurde nach vorne gedrückt, als ihm ein Windstoß in den Rücken fiel. Er drehte sich zum Meer um. Der auflandige Wind wehte jetzt schon zehn Tage. Er erinnerte sich gut an den Tag, als der Wind von Süd auf Nord drehte, denn an diesem Tag hatte Tir die Fäden gezogen. Einer von Visikals Männern war ins Lager gekommen, und Bran fragte sich, was der fremde Krieger wollte. Tir hatte er seit dem Morgen im Wald nicht mehr gesehen und kaum erwartet, je wieder etwas von ihr zu hören. Der Krieger trug Rüstung und Schwert. Er verbeugte sich, als Bran aus Dielans Zelt kroch.
    »Visikals Nichte, Tir, bittet Bran, den Häuptling des Volkes aus dem Norden, in Visikals Haus zu kommen!«, rief er. Dann machte er auf dem Absatz kehrt und marschierte davon.
    Als Bran durch die Häuserreihen zum Hafen hinunterkam, rollte der Donner vom Meer auf das Land zu. Plötzlich hielt der Wind den Atem an. Er sah die Wolken, die mit dem Südwind von den Ebenen herüberzogen. Er folgte ihnen mit den Augen, bis sie das schwarze Unwetter auf dem Meer trafen – eine Wand aus Ruß, die mit schrecklicher Geschwindigkeit auf das Land zuraste. Dort, wo sich die zwei Winde trafen, zuckten die Blitze durch das Dunkel, und wieder rollte der Donner. Bran ärgerte sich, dass er sich keine Jacke angezogen hatte. Der Herbst, den Turvi bereits hatte kommen sehen, legte seine kalten Hände auf Brans Rücken. Er hastete an der Kaimauer entlang. Die Händler waren bereits damit beschäftigt, ihre Waren zusammenzupacken und den getrockneten Tang zu retten, bevor dieser von den Gestellen geweht wurde. Der Wind heulte in den Masten und Stagen. Die Wellen peitschten die Mole, und als er den Bäcker am Ende der Reihe der Verkaufsstände erreichte, musste er sich hinhocken, um nicht vom Sturm umgerissen zu werden. Denn jetzt hatte die Rußwand die Mole erreicht, und das Tageslicht verschwand, als hätten die Götter eine Decke vor die Sonne gezogen. Die Wolken öffneten sich mit Getöse, und Regen prasselte nieder.
    Bran folgte dem Weg, den er mit Turvi gegangen war. Er ließ den Regen an seinem Körper herabrinnen und sah, wie die Tirganer Fensterläden und Türen verriegelten. Das Wasser rann bereits in kleinen Strömen durch die Gassen nach unten. Als er auf die breite Straße kam, bemerkte er, dass er allein war. Mit nackten Beinen watete er die Treppen empor, über deren Stufen sich Wasserkaskaden ergossen. Schließlich erreichte er den schwarzen Turm und verschwand im Wald. Auch hier regnete es, denn die Baumkronen vermochten das Unwetter nicht abzuschirmen. Aus dem Bach war bereits ein kleiner Fluss geworden, den er durchwaten musste.
    Eine Weile blieb er bei den Bäumen stehen. Die gewaltigen Wände, die sich auf dem Platz vor ihm erhoben, erschreckten ihn. Das muss Visikals Haus sein, dachte er. Er sah den Platz, der mit Kies

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