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Brans Reise

Titel: Brans Reise Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Bull-Hansen
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ihr. Bran sah, dass sich die Baumkronen nicht vollends schlossen und die Sonne zwischen ihnen hindurchfiel. Das Licht bildete eine Säule in der feuchten Luft.
    »Es ist merkwürdig«, sagte sie. »Im Garten meines Onkels ist das sein Bach, doch unten in der Stadt, wo die Menschen ihre Krüge füllen, gehört er allen Bürgern von Tirga.«
    Bran war verwirrt. Er blickte auf den Bach hinab, der vor seinen Stiefeln dahinfloss, und verstand nicht, wie jemand ihn besitzen konnte.
    »Es ist Morgen«, sagte er. »Ich sollte gehen.«
    »Nein.« Sie winkte ihn zu sich. »Alle gehen. Tu es nicht.«
    Er blieb stehen und sah sie lange an. Die Sonnensäule bewegte sich sachte über das Gras und kam ihren nackten Füßen immer näher.
    »Sie ziehen in den Krieg.« Sie sagte es so wie zu einem alten Freund. »Die Skerge haben beschlossen, dass die Männer aufbrechen müssen, sobald sie das Korn geerntet haben.«
    »Krieg?« Er trat über den Bach. »Gegen wen?«
    »Hat das etwas zu sagen?« Sie beugte sich vor und ließ ihre Haare vor ihr Gesicht fallen.
    »Nein.« Bran heftete den Blick auf ihre Zehen. Die Sonnensäule glitt über ihren schlanken Fuß. »Ich bin kein Krieger. Ich verstehe davon nichts.«
    Sie warf den Kopf nach hinten und starrte ihn an. Bran drehte sich zur Seite und wendete die verunstaltete Seite seines Gesichts von ihr ab. Die Haut über seiner Schläfe begann zu zucken. Er rieb seine Fingerknöchel über die Stirn und biss die Zähne zusammen. So durfte sie ihn nicht sehen.
    »Ich weiß alles über dich.« Sie klopfte neben sich auf den morschen Holzklotz. »Setz dich, Bran. Du hast keine Geheimnisse vor mir.«
    Bran fasste sich in den Nacken. Die Zuckungen ließen nach.
    »Du hast alles erzählt, während das Fieber in deinem Körper wütete«, sagte sie. »Ich weiß von der Felsenburg und von Noj und dem Traum, den du hast. Und ich kenne die Verletzung, die dich quält.«
    »Ich muss zurück zu Turvi«, murmelte er.
    Plötzlich war sie bei ihm. Sie nahm seine Hand zwischen die ihren. »Du bist kein Mörder wie Visikal und seine Männer! Sag, dass du nicht so bist, Bran!«
    Bran starrte verhext auf ihre Finger. Sie waren schmal und weiß wie die Flügel einer Möwe.
    »Tir.« Er schloss die Augen, denn er wagte es nicht, sie anzusehen. »Ich habe für dich getötet.«
    Da wandte sie sich von ihm ab. Er sah ihr nach, als sie durch die Sonnensäule trat und unter den Zweigen verschwand. Dann war das Knirschen von Kies zu hören. Einen Augenblick lang konnte er ihr blaues Kleid vor der Mauer erkennen, dann fiel eine Tür ins Schloss.
    Bran ärgerte sich, dass er nichts anderes gesagt hatte. Er warf einen letzten Blick auf die Gebäude hinter den Bäumen und bemerkte, dass die Sonnensäule den Ort erleuchtete, an dem sie gesessen hatte.
     
    Als Bran zur Treppe zurückkam, rollte Turvi das Pergament zusammen und schob es unter seinen Umhang.
    »Jetzt bin ich fertig.« Er lehnte sich über sein Bein und schob sich die Krücke unter den Arm. »Hilf mir, Bran! Dann gehen wir ins Lager hinunter und wecken die anderen.«
    Bran legte seinen Arm um den Rücken des Alten.
    »Ein schöner Ort.« Turvi sah über das Meer. Die Sonne glitzerte bereits auf den Wellen. »Ich habe viele gute Worte geschrieben, während du fort warst. Aber mit wem hast du gesprochen? Mir war so, als hätte ich Stimmen gehört?«
    »Das müssen die Vögel gewesen sein.« Bran trat einen Schritt vor und ließ den Alten hinterherhumpeln. »Oder der Wind.«
    »Der Wind, ja…« Turvi warf ihm einen listigen Blick zu und stellte seine Krücke auf die nächste Stufe. »Der Wind… ich frage mich, was er dir zugeflüstert hat.«
    Bran antwortete ihm nicht. Er half dem Einbeinigen Stufe für Stufe weiter, vorbei an dem schwarzen Turm und den hohlen Knochen, bis zurück ins Lager.

Visikals Forderung
     
    B ald war ein Monat vergangen, seit das Felsenvolk in Tirgas Hafen gesegelt war. Der Regen, auf den die Tirganer den ganzen Sommer gewartet hatten, war viele Tage auf das Land niedergeprasselt, nur selten unterbrochen von kurzen Sonnenstrahlen, wenn die dunklen Wolken vom Meereswind auf die Ebene hinausgedrückt wurden. Doch die Wärme des Sommers hatte sich lange gehalten. Sie steckte im Boden und wärmte die Wurzeln des Getreides, so dass die Körner jetzt golden in den Ähren hingen. Wie alle anderen Männer seines Volkes half Bran den Tirganern bei der Ernte. Als er zum ersten Mal den steilen Karrenweg zum Rand der Ebene emporkletterte, blieb er

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