Brasilien
Silberpolitur, die Handlinien wie eingraviert, sanken offen in seinen Schoß. Vor den Zugfenstern erstreckte sich meilenweites Hügelland unter einer grellgrünen Decke von Kaffeebäumen.
Als sie an der Estação da Luz in São Paulo ankamen, brach gerade ein schwerer Gewittersturm los, der Regenschleier durch die Straßen jagte und die Spitzen der höchsten Gebäude in Wolken hüllte. Die Menschen hasteten, windzerzauste Zeitungen über dem Kopf, von Portal zu Portal und drängten sich in den Bogengängen der Bahnhofshalle, wo es nach einer dampfigen Herde roch. Die Bahnhofshalle war ganz aus Eisen und prunkte mit Balkonen wie aus durchbrochener Spitze und zahllosen viktorianischen Verstrebungen. Schon jetzt spürten sie, daß São Paulo keine Grenzen kannte. Diese Stadt war nicht eingezwängt zwischen Meer und Bergen wie Rio, sie war ein Teil des endlosen planalto, ein Hafen an seinem Rand. Vieh und Kaffee aus dem Hinterland waren durch diesen Trichter geflossen und hatten die Stadt reich und riesig und herzlos gemacht.
Als der Regen aufhörte und schwaches gelbes Sonnenlicht die Pfützen und die noch gurgelnden Rinnsteine, die grünen Telefonzellen und die Zeitungsstände vergoldete, an denen O Globo und Folha de S. Paulo an Leinen geheftet wurden wie Wäsche zum Trocknen, fanden sie ein freies Taxi und befahlen dem Fahrer, sie zu dem einzigen Hotel zu bringen, das Isabel kannte, dem Othon Palace, in dem sie vor zehn Jahren mit ihrem Vater für ein Wochenende gewohnt hatte. Ihre Mutter war damals schon tot, und sie erinnerte sich an eine großgewachsene Frau, die dabeigewesen war und sich mit zuviel Wärme um Isabel gekümmert hatte. Sie hatte ihr Süßigkeiten und Modeschmuck gekauft und sie umarmt wie eine Schauspielerin, die den Part einer Mutter probt, aber sie war viel zu aufgetakelt und zu jung für diese Rolle. Nun erwies sich, im gleichen Hotel, Isabel selbst als zu jung für die Rolle, die sie sich zugedacht hatte, nämlich die der Ehefrau. Der Portier, ein schlanker junger Mann mit großen roten Ohren, einem Mittelscheitel und eng an den Kopf geklatschten Haaren, warf einen Blick auf sie und einen Seitenblick auf Tristão, auf sein dünnes blaues Baumwollhemd – sein bestes –, auf seine ausgebleichten Shorts und auf die langen schwarzen Beine, die darunter sichtbar wurden, um dann zu verkünden, daß alle Zimmer belegt wären. Isabel unterdrückte die Tränen, die ihr in die Augen stiegen, und fragte, wo sie dann sonst hingehen sollten. Der Portier schien es gut mit ihr zu meinen, wenn er auch gegen seine berufsmäßige Hochnäsigkeit ankämpfen mußte; er erinnerte sie an manchen ihrer Cousins. Mit seinen milchigblauen Augen – deren Wimpern fast weiß waren, wie bei einem Schwein – schielte er nach allen Seiten, um sicherzustellen, daß er nicht beobachtet würde, und schrieb dann auf ein Blatt Othon-Palace-Briefpapier Hotel Amour, gefolgt von der Adresse, zu der er im Flüsterton erläuterte, wie man hinfand: über den Viaduto do Chá bis zur Avenida Ipiranga, dann rechts und um eine Menge schwieriger Ecken. Schnell gehen, empfahl er noch, und sich nicht von Fremden ansprechen lassen.
Der Name des Hotels war in flimmerndem Neon an den Abendhimmel geschrieben, in einer schwungvoll schräggeneigten Schrift, wie die Nonnen sie Isabel beizubringen versucht hatten. Statt dessen war ihre Handschrift immer steil und rundlich geblieben. Das Hotel war einmal das Stadthaus eines Kaffeepflanzers gewesen und hatte luftige Räume mit gewölbten Decken, die nun freilich in jeweils mehrere Gästezimmer unterteilt und mit kunststoffurniertem Mobiliar der fünfziger Jahre ausgestattet waren. Das Bett war ein schlichter Kasten, und die Bilder an der Wand zeigten glotzende Gassenjungen mit übergroßen Augen, aber von der Decke hing ein Ventilator herab, der seine vier trägen Flügel auf das Knipsen eines Schalters hin gehorsam in Bewegung setzte, und es gab mehrere Spiegel in vergoldeten Rahmen und eine Kommode und einen Garderobenschrank aus einem süßlich duftenden dunklen Holz. Isabel fühlte sich wie eine Frau von Welt, als sie ihre Kleider auspackte und verstaute und es sich auf dem Sofa bequem machte und den Zimmerservice anrief, um Speisen und Getränke zu bestellen, als wäre es das Selbstverständlichste auf der Welt. Der Portier war ein fetter Italo-Brasilianer ohne Schlips und Kragen, der keinen Augenblick gezögert hatte, ihnen ein Zimmer zu geben, während der Page, ein Mulatte, nach dem
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