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Brasilien

Brasilien

Titel: Brasilien Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Updike
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Mütterchen, riecht das nach einer Falle?» fragte Euclides die blinde, alte Seherin. Und zu den anderen gewandt, sagte er: «Ich habe den Eindruck, daß mein Bruder seinen ganzen Stolz und Ehrgeiz daran wendet, uns in Schwierigkeiten zu bringen, die wir uns nach nichts anderem sehnen als nach einem bescheidenen Leben, unbemerkt von den Mächtigen, mit gerade soviel Dieberei und Hurerei wie nötig, um nicht zu verhungern.»
    Mit einer blitzartigen, lautlosen Handbewegung zog Tristão die Rasierklinge heraus und drückte sie gegen die breite, bleiche Wange seines Bruders. «Du verdienst ein anderes Gesicht», sagte er, «wenn du auf das großherzige Geschenk meiner Gemahlin spuckst.»
    In Brasilien bedarf es keiner steifen Zeremonie vor dem Standesbeamten, um voneinander als Ehemann und Ehefrau zu sprechen. Das Herz bestimmt den Zeitpunkt, ab dem man sich verheiratet fühlt, und für Tristão und Isabel war er gekommen, nachdem sie diese eine Nacht in der völligen Finsternis von Ursulas Hütte verbracht hatten.
    Vorsichtig, ohne sein Gesicht zu bewegen, sagte Euclides: «Wir sind solche Geschenke nicht gewohnt. Tiere wie wir werden vom bürgerlichen Schuldbewußtsein normalerweise nicht berührt. Marx schreibt, daß sentimentale Menschenliebe schlimmer sei als unverhohlene, gesunde Unterdrückung, die der Arbeiterklasse immerhin bewußt macht, daß ein Krieg tobt. Vergib uns, Isabel, daß wir unhöflich sind.»
    «Tut doch einfach so, als hättet ihr den Kerzenleuchter gestohlen», sagte Isabel gelassen, «wenn euch das ehrenhafter vorkommt.» Sie merkte, daß eine Rivalität zwischen den beiden Halbbrüdern bestand und daß ihre Gegenwart Eifersucht erzeugte, was zu einem Teil daran lag, daß sich Eudóxia diesem kurzsichtigen Philosophen aus dem Elend entzogen und damit das brüderliche Gleichgewicht gestört hatte. «Euclides, vergib mir, daß ich dir Tristão entführe.»
    Am Strand scheinen wir alle frei zu sein, nackt und faul und absolut, aber in Wahrheit gelingt es keinem, die Zwangsjacke der Verhältnisse abzustreifen. Jeder ist ein Zweig an einem bestimmten Busch, und eine Frau zu gewinnen heißt einen Bruder verlieren. «Umarmt euch», befahl sie den beiden Brüdern, und für ihren Liebsten fügte sie hinzu: «Wir müssen aufbrechen.» Zu Ursula sagte sie: «Wenn’s dir lieber ist, dann behalte mein Geschenk bei dir. Geh eine Kerze stiften, damit wir nicht noch einmal in einer schwarzen Nacht zu dir kommen.»
    «Einfach viel zu viele Fotzen in Brasilien», murmelte Ursula, als wolle sie ihre Armut und ihre verschämte Bereitschaft erklären, diese Bezahlung ihrer Gastfreund schaft anzunehmen.
    Niemand hinderte das Paar, die Hütte zu verlassen, obwohl das Mütterchen, das sich nicht genug beachtet fühlte, mit einer Prophezeiung Unruhe zu stiften suchte. «Unheil viel, Unheil viel», begann sie zu kreischen, «ich rieche großes Unheil über uns. Es riecht wie Blumen, es riecht wie der Wald. Der alte Wald kommt über uns, er wird alle Armen verschlingen! Oxalá, sei uns gnädig!»
    Vor der Hütte saß auf einem rohen Brett, das auf dem festgestampften Boden zwischen milchigen Rinnsalen von Abwasser ruhte, das bullige Pärchen und sonnte sich. Tristão stellte die beiden als seinen Vetter und seine Nichte vor, die in den glorreichen Tagen Kubitscheks in einer der Nachtbars in Lapa, nicht weit vom alten Aquädukt, Live-Geschlechtsakte auf der Bühne vorgeführt hatten. Zweimal pro Abend und dreimal an Wochenenden war es ihnen gelungen, vor einem johlenden, nicht eben konzentrationsfördernden Publikum im glühendheißen Licht der Scheinwerfer den Orgasmus zu erreichen. Doch von heute auf morgen schienen sie zu alt geworden zu sein, um mit dieser Leistung noch irgend jemandem zu imponieren, und so saßen sie nun hier und warteten, ob ihnen das Glück neue Karten austeilte. Sie hatten freundliche, faltige, teilnahmslose Gesichter, ganz ähnlich den Gemüsehändlern auf dem Markt, voller Erwartung und Liebenswürdigkeit, aber ohne zu drängen. Isabel fragte sich mit einem innerlichen Schaudern, ob sie und Tristão einmal genauso endeten, ob sich alle sexuelle Lust in Nichts auflösen würde wie ein Regenbogen in der Gischt der Brandung. Als sie, Hand in Hand, den steilen Hügel hinuntergingen, erstreckte sich der Ozean endlos vor ihnen – ein Brustharnisch aus schimmerndem Metall – und rund um sich her hörten sie, gefüttert mit gestohlenem Strom, das einsame und verführerische Raunen von

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