Brasilien
Freunde», sagte der Mann mit den gewinnend grauen Schläfen und einem wohlgestutzten, grauen Oberlippenbart. «Wir sind nur hier, um die junge Dame zu ihrem Vater in Brasília zu begleiten. Die Maschine startet kurz nach zehn in Congonhas, also haben wir noch eine Menge Zeit. Wir hatten uns darauf eingerichtet, daß ihr mit einer vornehmen Verspätung kommt. Nehmen wir doch alle einen Drink.»
«Ich würde in das Glas spucken, das mir dieser Judas von einem Bruder anbietet», sagte Tristão, und direkt an Chiquinho gewandt: «Wie kannst du diesen Verrat vor dir selbst rechtfertigen?»
Chiquinho ruderte mit seinen Armen vor der Brust, als wolle er Fliegen verscheuchen, ohne die Hände zu benutzen. «Diese Beziehung ist entwürdigend für dich, Bruder. Du hast deinen Biß verloren. Du wirkst aalglatt und kraftlos, wie ein Mann, der sich aushalten läßt. Es ist besser, wenn du von mir verraten wirst als von dieser Platinschönheit. Die Reichen finden immer wieder zu ihresgleichen zurück. Das bißchen Geld, das ihre Leute für meine Mitarbeit ausgesetzt haben, wird meine Weiterbildung finanzieren. Ich werde ein Elektroingenieur mit Brief und Siegel!»
Isabels liebes Äffchengesicht war hin und her gezerrt zwischen Tränen und Empörung, doch ihr Körper, neben Tristão auf dem buntkarierten Sofa, fühlte sich unter seinem Arm so seltsam schlaff an. Irgend etwas in ihr hatte nachgegeben. Tief in unserem Inneren werden die Tore für unsere Niederlagen geöffnet. Ihre Erziehung trug sie über sexuelle Heldentaten und nachmittägliche Seifenopern hinaus. «Woher wußtet ihr von uns?» fragte sie Chiquinho mit leiser Stimme. «War es Ursula?»
Tristão empfand Schmerz um sie, denn er wußte, daß sie sich mit ihrem Willen, seine keines liebenden Gedankens würdige Mutter zu lieben, eine Aufgabe gestellt hatte, die heroisch war in ihrem Aberwitz. Seine Mutter zu lieben war ihre eigenste Erfindung, die erste verletzliche Frucht ihrer heimlichen Ehe.
«Aber nein, mein Fräulein, nein», entgegnete Chiquinho mit einem mitleidigen Unterton. «Unsere gesegnete Mutter lebt unterhalb der Ebene der Elektronik, der Kommunikation mit dem Unsichtbaren. Seit ihr im Alter von vierzehn Jahren der Gedanke aufgestoßen ist, ihren Körper zu verkaufen, hat sie keine gewinnträchtigen Eingebungen mehr gehabt. Es war Euclides, der mich mit Hilfe unserer nicht immer unzuverlässigen Post alarmiert hat, daß Tristão auf dem Weg nach São Paulo war, mit einem Schatz im Gepäck. Erst habe ich darauf gewartet, daß er mich ausfindig macht, aber er war der Größe dieser Stadt nicht ganz gewachsen. Also habe ich ihn gefunden. Das Othon Palace war als mögliche Anlaufstelle genannt worden, und der Portier von dort erwies sich als eine große Hilfe. Er konnte sich an euch beide erinnern. Er hat mich gebeten, euch zu versichern, daß es keinerlei ethnisches Vorurteil von seiner Seite gewesen sei, das ihn veranlaßte, euch abzuweisen, sondern lediglich Rücksichtnahme auf die Gefühle der Hotelgäste, von denen viele aus dem Ausland, aus weniger toleranten Ländern kommen.»
«Was wird mit Tristão?» japste Isabel angstvoll, so daß die Perlenschnur ihrer Zähne, ihre samtige Zunge sichtbar wurden. An die Logik von Geld und Macht gewöhnt, hatte sie schneller als Tristão das Problem erfaßt, das er darstellte: Wenn er in Freiheit blieb, würde er Ärger machen. Er könnte seiner Frau in Brasília nachstellen; er könnte versuchen, sie seinerseits zu entführen; er könnte sogar – eine groteske Vorstellung – zur Polizei gehen. Tristão spürte ihre Panik und sah plötzlich selbst, daß die sicherste Methode, Isabels Verbindung mit ihm zu beenden, darin bestand, ihn zu töten. Als hätte jemand einen Stromschalter umgelegt oder einer der jähen und gewaltigen Gewitterstürme von São Paulo die Luft so sehr verdunkelt, daß alles im Negativ erschien und die Schatten weiß wurden und die Häuserwände schwarz, so erkannte er jetzt, wie vollständig die lautlose Gegenwart der beiden Pistolen den Raum verwandelt hatte. Der Tod, jene undenkbare Ferne, war plötzlich nahe gerückt, nur einen oder zwei Schritte weit entfernt, und auf einmal waren alle Oberflächen dünn und verletzlich wie Papier. Jede Linie im Raum, von den schattigen Ecken bis zu den Nähten des karierten Sofas und den sechseckigen Bodenziegeln von der Farbe von Chiquinhos Haut, hatte einen neuen Fluchtpunkt. Eine ernste Stimmung war entstanden, in der keiner laut zu werden wagte
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