Bratt, Berte - Lisbeth 01 - Meine Tochter Liz
pflegen. Lisbeth war sein einziger Umgang. Abend für Abend plauderte er mit ihr, und er freute sich jedesmal, wenn sie ein neues Wort erlernt hatte oder wenn er einen Fortschritt, eine Veränderung an ihr wahrnahm.
Sie war ungewöhnlich frühreif. Georg sprach mit ihr wie mit einem Erwachsenen. Und sie hörte aufmerksam zu, die klugen, blanken, braunen Augen auf ihn gerichtet.
„Du mußt das richtig verstehen, Lisbeth“, sagte Georg etwa zu ihr. „Ich würde dir schrecklich gern zu Weihnachten ein großes Geschenk kaufen, aber ich habe nicht das Geld dazu. Und wenn ich all mein Geld hernähme und gäbe es für ein Geschenk aus, dann hätten wir nichts mehr, wofür wir uns Essen kaufen könnten.“
Das war klar und einleuchtend. Es war eine Tatsache, der man sich zu fügen hatte. Lisbeth wurde dadurch in keiner Weise verbittert.
Ganz selten einmal holte Georg seine Geige hervor und spielte auf ihr. Dann saß Lisbeth mäuschenstill auf ihrem Stuhl und lauschte aufmerksam. Sie liebte Musik. Auch darin glich sie ihrem Vater.
Und die Jahre vergingen.
Georg wurde es manchmal eiskalt vor Angst. Was sollte aus dem kleinen Wesen werden, wenn er nicht mehr lebte? Sie hatte niemanden auf der Welt – außer einer alten Großmutter, die schwer kämpfen mußte, um existieren zu können. Die Großmutter konnte sich nur dann Lisbeths richtig annehmen, wenn für ihren Unterhalt bezahlt wurde.
Und Georg brachte noch mehr Geld auf die Sparkasse und gönnte sich selber noch weniger als zuvor.
Am Morgen des Tages, an dem er starb, machte Georg mir ein Geständnis. Seitdem ich erklärt hatte, ich werde Lisbeth mit mir in die Berge nehmen, hatte er die Lösung geahnt. Ich lebte in guten Verhältnissen, war jung und hatte Lisbeth lieb. Vielleicht konnte es Lisbeth erspart bleiben, daß sie zu ihrer Großmutter mußte.
Ja. Es sollte ihr erspart bleiben!
Ich hatte in den Tagen, die auf Georgs Tod folgten, allerlei geschafft. Ich hatte seine Wohnung gekündigt, die Möbel eingelagert, Lisbeths Kleider zu mir gebracht und ihre Großmutter in einem langen Brief von allem unterrichtet.
Dann war Georg begraben worden. Es war ein einsames, trauriges Begräbnis gewesen. Außer mir hatten ihm nur ein paar Kollegen aus seinem Geschäft die letzte Ehre gegeben. Schließlich war ich auf dem Gericht gewesen, hatte geredet, erklärt und bezahlt, was zu bezahlen war.
Ich war todmüde.
Aber mitten in aller meiner Müdigkeit spürte ich ein heißes Glücksgefühl: Lisbeth gehörte mir!
Sie war nun mein eigenes Kind – mein wundervolles kleines Mädchen –, und niemand auf der Welt sollte es mir wieder wegnehmen!
Der Zug verlangsamte die Fahrt und hielt. Wir waren da.
Anne-Grete nahm mich auf dem Bahnhof in Empfang. Lisbeth stattete gerade der Alm einen Besuch ab und spielte mit Perle und Graubein.
Als wir uns der Berghütte näherten, kam sie angelaufen. Sie war noch brauner, strotzte noch mehr von Gesundheit als vor meiner Abreise. Die neue blaue Trägerhose war ihr schon fast zu eng geworden.
„Steffi! Steffi! Guten Tag! Du bist aber lange weggeblieben!“
„Ich werde das Gepäck ins Haus tragen“, sagte Anne-Grete mit merkwürdig belegter Stimme.
„Komm, Lisbeth!“ sagte ich. „Nun gehen wir beide hinein!“
8
In einem der großen Sessel vor dem Kamin saß ich mit Lisbeth auf dem Schoß. Sie hatte ihre Arme fest um meinen Hals geschlungen, den Kopf an meine Brust gepreßt und weinte.
Sie saß schon lange so. Ihr Gesicht war ganz heiß und von dem vielen Weinen geschwollen.
Ihr kleiner Körper zuckte krampfhaft. Zuerst war sie ganz bleich geworden – hatte ein paar verwirrte, ^zusammenhanglose Fragen gestellt – und was keine Freude, keine Überraschung zu bewirken vermocht hatte, das hatte ihr verzweifelter Kummer bewirkt: Sie warf sich an meine Brust, klammerte sich an mich und weinte sich, von grenzenlosem Schmerz geschüttelt, an meiner weißen Bluse aus. Ich spürte die Feuchtigkeit ihrer Tränen auf meiner Haut. Und ich konnte ihr nur auf eine einzige Weise helfen: Ich ließ sie sich ausweinen.
Nach einer langen, langen Zeit wurde sie etwas ruhiger. Es war, als hätte sie sich völlig ausgeleert. Sie war todmüde, konnte einfach nicht mehr weinen.
„Steffi!“ sagte eine heisere, müde, gequälte Stimme.
„Ja, mein Häschen?“
„Es ist gerade so, als wäre es nicht wahr. Es ist, als könnte ich es nicht glauben.“
„Kannst du wohl ruhig zuhören, wenn ich dir etwas erzähle?“
„Ja“,
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