Braut der Schatten
üblich war.
Er beschloss, sich in der Gasse neben der Taverne auf die Lauer zu legen, und band sich die Lederkordel des Kristalls wieder um den Hals.
Da ich Caspions Vorlieben kenne, mache ich mich wohl besser auf eine längere Wartezeit gefasst.
Heute Abend würde Trehan nicht in seinen einsamen Räumen vor dem Feuer lesen können. Er würde auch nicht mehr die Waffen seiner akkuraten Sammlung polieren. Schicksalsergeben machte er sich auf den Weg in jene Gasse.
Er musterte seine Umgebung, nicht um sie zu bewundern oder zu erforschen, sondern um auf jedwede Bedrohung vorbereitet zu sein. Dakier waren eine Rasse von Beobachtern. Sie waren Zuschauer aus dem Nebel.
Alles beobachten, niemals eingreifen.
Auch wenn sich Trehan schon auf Hunderte verschiedene Ebenen der Mythenwelt transloziert hatte, von denen jede ihre eigenen Attraktionen und Naturwunder besaß, hatte er diese niemals genossen.
Trehan genoss überhaupt nur selten etwas. Er trank Blut, ohne es zu schmecken. Wenn er überhaupt schlief, wachte er auf, ohne erfrischt zu sein. Er tat seine Pflicht für Dakien, doch die Befriedigung, die er einst daraus gezogen hatte … schwand zusehends dahin.
»Dich müssen die Götter wohl mit der Strafe der ödesten Existenz belegt haben, die überhaupt vorstellbar ist – und dazu noch mit dem Fluch, dass du nicht mal erkennst, wie beschwerlich und ziellos sie ist«, hatte einer von Trehans Cousins, Viktor, erst kürzlich gespottet.
»Ich lebe ein Leben im Dienst meines Landes«, hatte Trehan ihn korrigiert. »Und es gibt durchaus den ein oder anderen Zeitvertreib, den ich genieße. Ich lese am Feuer …«
»Weil deine einzige Alternative die ist, stumpfsinnig in die Flammen zu starren.«
Ja, das tue ich ebenfalls des Öfteren.
Trehan bekam die Gerüchte über sich durchaus mit. Manche Dakier verglichen ihn mit einem Geist, nannten ihn »den Schatten« – in Anspielung auf seinen Titel –, da sein Leben aus nichts anderem als stiller, zermürbender Pflichterfüllung bestand, ohne Ziele oder Pläne. Sie mutmaßten, er hätte keinerlei Begierden, weder heimliche noch sonst welche.
Man hatte ihn schon früh gelehrt, nichts zu begehren und auf jeden Fall nicht mehr für sich zu erhoffen, als seinen Dienst für sein Königreich zu erfüllen.
Doch vor drei Monaten war eine alte Sehnsucht neu erwacht, von der er geglaubt hatte, er hätte sie längst abgeschüttelt …
Trehan blieb stehen, all seine Sinne waren in Alarmbereitschaft. Er blickte sich durch den Nebel hindurch um, konnte aber keine Bedrohung wahrnehmen. Dennoch ließ die unerklärliche Anspannung nicht nach.
Dann wurde sein Blick weit nach oben zu einem der Türme der Burg gezogen, dem höchsten unter ihnen, weit außerhalb der Reichweite des Nebels. In einer sumpfigen Region wie dieser befanden sich in den oberen Stockwerken vermutlich die Gemächer der königlichen Familie.
Vor allem ein ganz bestimmtes Fenster erregte seine Aufmerksamkeit. Darin leuchtete eine einsame Laterne wie ein Signalfeuer. Aus irgendeinem Grund fühlte er sich beinahe gezwungen, weitere Untersuchungen anzustellen. Das ergab überhaupt keinen Sinn. Kein Dakier, der noch bei Verstand war, würde ohne guten Grund riskieren, gesehen zu werden.
Konzentrier dich auf die Mission.
Die Zielperson war nach wie vor auf freiem Fuß und stellte ein Risiko für Dakien dar, solange sie am Leben war. Denn der Dämon kannte den Rückweg in Trehans Königreich.
Obwohl die Dakier ihr Königreich mithilfe von Magie verbargen, war kein Zauber für alle Zeit absolut sicher. Als zusätzliche Sicherheitsmaßnahme hatten sie ein Gesetz erlassen, dass es einem jeden verbot, das Land ohne besondere Ausnahmegenehmigung zu verlassen. Wer gegen dieses Gesetz verstieß, musste sterben.
An diesem Punkt kam Trehan ins Spiel. Als Dakiens Meisterassassine verfolgte er diese Gesetzesbrecher bis ans Ende der Mythenwelt, wenn nötig. Er spürte sie mit seinem Sucherkristall auf und erschlug sie, ehe sie jemandem den Weg nach Dakien zeigen konnten.
Dies war seine heilige Pflicht, und er würde sie auch an diesem Abend wieder erfüllen.
Er schüttelte entschlossen den Kopf und wandte seinen Blick wieder dem Signal des Talismans über der Taverne zu.
Doch genauso rasch glitt sein verräterischer Blick zu dieser Laterne zurück. Warum hatte jemand eine brennende Laterne ins Fenster gestellt? Was würde Trehan in diesen Gemächern finden? Welche Geschichte spielte sich vielleicht gerade jetzt innerhalb dieser
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