Brautflug
Marjorie war klar, dass sie nicht so schnell wieder verschwinden würden. Hinter sich hörte sie die Tür von Esthers Zimmer leise auf- und zugehen. Die Frau machte ein Zeichen, Kaffee, ob sie Kaffee habe? Marjorie schüttelte lachend den Kopf und rief durchs Fenster, dass sie keine Zeit habe, »Sorry, no time!«, und zeigte auf die Koffer, die im Wohnwagen bereitstanden. Die Knopfaugen fielen der Frau vor lauter Erstaunen fast aus dem Kopf. Der Mann zeigte auf die Tür. Sie fluchte innerlich, konnte aber nichts anderes machen, als zur Tür zu gehen und sie zu öffnen.
Es waren Niederländer. Sie stellten sich vor, aber die Namen drangen nicht zu Marjorie durch. Die ganze Zeit über dachte sie an die Wasserspur, die Esther beim Kriechen über den Boden zurückgelassen hatte, sie nahm den süßlichen Geruch wahr. »Reisen Sie jetzt schon wieder ab?«, fragte der Mann, »Sie sind doch gerade erst hergezogen!« Er hatte einen friesischen Akzent. Sie versuchte fieberhaft ihre Gedanken zu ordnen. »Ja«, sagte sie, »aber mein Mann hat einen besseren Job gefunden.« In Wellington, wollte sie hinzufügen, aber sie konnte sich gerade noch bremsen. »So, so«, sagte der Mann anerkennend, »ein neuer Job, das ist gut. Und wo, wenn man fragen darf?«
Sie hatten sich feierlich versprochen, nichts zu erzählen. Sie würden umziehen, und Esther sollte nicht erfahren, wohin. Jetzt saß sie hinter der dünnen Wand und hörte mit. Marjorie starrte über die Köpfe des Ehepaars hinweg in die Pinien, von deren Ästen der Schnee hinunterglitt und mit einem dumpfen Plumps auf den Boden fiel.
»Auckland«, sagte sie dann.
»So, so. Das klingt gut. Und wann ziehen Sie aus?!«
Sie spürte, dass sie einen merkwürdigen Eindruck machte.
»Bald«, sagte sie.
Der Mann und die Frau schienen tief enttäuscht, als würde ihr Fortgehen den Untergang der Welt bedeuten.
»Wie bald?«
Marjories Augen fielen gewohnheitsmäßig dorthin, wo die Knochen und der kleine Schädel lagen, aber der Schnee hatte alles zugedeckt.
»Bald«, sagte sie stumpfsinnig.
»Und wir wollten uns so gerne mal mit Ihnen treffen«, sagte der Mann, »zum Kennenlernen. Wir sind aus Reitsum, bei Dockum.« Sie erkannte den Tonfall ihrer Heimat. »Natürlich«, sagte sie und drückte die Tür nun fast zu, denn im Zimmer hinter ihr klangen unterdrückte Aufschreie, »aber nicht jetzt.«
»Bei Rückenwind ist man mit dem Rad ganz schnell in Dockum. Wo kommen sie her?«
»Ich rieche Kaffee«, sagte die Frau.
»Bonifatius wurde von den Friesen bei Dokkum ermordet«, sagte Marjorie und verzog das Gesicht, gab der überreizten Verzweiflung Ausdruck, die sie in diesem Moment tatsächlich empfand. Die Frau nickte erfreut.
»Halten Sie uns auf dem Laufenden«, sagte der Mann. »Dann können wir zu viert noch eine
Gallon
auf die Zukunft trinken. Unser Junge heißt Lewis.«
Sie nickte.
»Eigentlich heißt er Lieuwe«, erklärte die Frau.
»Das machen Sie aber wirklich, ja?«, drängte der Mann, »noch bevor Sie wegfahren.« Höflich lächelte sie. Er wollte gerade anfangen zu erklären, wo sie sie finden könnten, doch Marjorie schloss lachend und nickend die Tür. Aus dem kleinen Zimmer erklang leises Stöhnen. Sie sah auf die nasse Spur auf dem Boden, die bis zur Tür des Zimmers verlief. Das Ehepaar knirschte durch den Schnee. Sie ging zum Fenster, winkte noch einmal, behielt sie scharf im Auge, bis sie ganz aus ihrem Sichtfeld verschwunden waren. Erst als sie in der Ferne ein Auto wegfahren hörte, erwachte sie aus ihrer Betäubung. »Weg«, sagte sie und sah die drei Frühstücksteller auf dem Tisch stehen.
»Marjorie … komm mal her.«
Esther stand mit ihren hochhackigen Schuhen in einer Pfütze Fruchtwasser und hielt ihren Rock hoch.
»Du bist mir noch nicht erschöpft genug«, meinte Marjorie sechs Stunden später, während sie einen neuen Vorrat Holz in den Ofen schob, denn sie erinnerte sich an den benommenen Zustand der Frauen im Kreissaal, die in sich gekehrten Blicke, als würden sie sich auf einem anderen Planeten befinden und sich nicht mehr des Anblicks bewusst sein, den sie boten: die weit geöffneten Beine, die Schamgegend, in die jeder geradewegs hineinsah, der Stuhlgang, das Blut – der Verlust jeglichen Anstands. Esther dagegen behielt starrsinnig ihr Kleid und ihre hohen Schuhe an, schlurfte zwischen den Wehen gequält durch den Wohnwagen und weigerte sich stur gegen die Untersuchung, auf die Marjorie drängte. »Was für ein Zustand«,
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