Brautflug
anheizte, Wasser kochte und Esther Tee und einen Cracker gab. Sie selbst konnte nichts essen. Im Spiegel starrte ihr ein unbekanntes, hohläugiges Gesicht entgegen. Sie füllte neue Wärmflaschen und legte sie unter Esthers Decke. Esther lag mit klappernden Zähnen und geschlossenen Augen da, in den Armen das dick eingepackte Kind. »Mir ist so kalt, so schrecklich kalt.« Sie öffnete nicht die Augen. Marjorie legte noch eine Decke über sie. »Das kommt von der Anspannung«, sagte sie, »du hast gerade das Matterhorn bestiegen, so musst du das sehen.« Das Kind hatte die Augen geöffnet. Marjorie setzte sich ans Fußende und sah auf den Boden. Sie hatte keine Ahnung, was sie sagen sollte. Der Boden kam auf sie zu und bewegte sich wieder von ihr weg. Das alles dauerte eine Ewigkeit.
Zu dem Zeitpunkt, als Hans hereinkam, stand bereits eine fade Wintersonne am Himmel. Marjorie reichte ihm eine Tasse Tee. Er sah ebenso hohläugig und blass aus wie sie, als hätte er in seiner Abwesenheit genau das Gleiche durchgemacht. »Bloody hell«, sagte er nach ihrem Bericht. »Ich habe es mir gedacht, das hatte ich befürchtet!« Die Wege waren unbefahrbar gewesen, das Auto hatte seinen Geist aufgegeben, etwas stimmte nicht mit dem Kühlwasser. »Stell dir nur vor«, sagte er, »da stand ich mit kochendem Motor im Schnee.« Er hatte die Nacht bei einem nichts ahnenden Kollegen und seiner Frau verbracht und vor Sorge keine Auge zugetan. Heute Morgen in aller Frühe hatte er das Auto von der Werkstatt abholen können.
Marjorie wollte ihn beruhigen. Es war gutgegangen. Das Kind war geboren, und es würde bei Esther bleiben. Es war gutgegangen, und darüber mussten sie froh sein. Was hat uns denn bloß geritten, wollte sie fragen, was haben wir uns eigentlich dabei gedacht? Warum haben wir nicht gesehen, wie geistesgestört das war? Aber sie bewahrte sich alle Fragen für später auf, im Augenblick konnte sie nichts herausbringen.
Etwas war mit ihren Gesichtern passiert, mit allen dreien. Sie schauten einander an und erkannten bei den anderen den gleichen Ausdruck. Die beiden standen neben dem Bett, in dem viel zu kleinen Zimmer, die Schienbeine gegen die metallene Bettkante gedrückt. In der schweren Luft, in der man all die Stunden der letzten Nacht roch. »Hallo«, sagte Hans leise. »Hallo«, sagte Esther. Ihre Stimme klang schwach und irgendwie beleidigt. Man hatte ihr viel Schmerz zugefügt.
Alle drei beugten sich über das Kind. Ruhige, wache Augen.
»Das war ein Theater«, sagte Esther nach einer Weile. Dann sah sie Marjorie an, lächelte und sagte leise: »Well done.« Im tiefsten Inneren fing etwas, was ganz und gar verschrumpelt war, an, um einen Millimeter anzuschwellen. »Du auch«, erwiderte Marjorie.
Esther nahm das Bündel in die Hände und reichte es Hans.
»Bitte schön, dein Sohn.«
Erschrocken nahm er das Baby von ihr an. Marjorie, die vierundzwanzig Stunden lang nichts gegessen und zweiunddreißig Stunden nicht geschlafen hatte, verschwamm alles vor Augen, und doch begriff sie alles auf der Stelle. Du kannst dein Kind nicht einer anderen Mutter geben.
Mühsam zog Esther sich hoch, sie versuchte aufzustehen, sank aber schwindelnd zurück. »Was machst du da?« Sie wollte in ihr eigenes Zimmer in die Kissen. Marjorie legte die Decke um sie und stützte sie. »Halt deinen Bauch fest«, sagte sie. Schritt für Schritt legten sie die Entfernung durch den Wohnwagen zurück. Hinter ihnen stand Hans mit seinem Sohn in den Armen. Sie legte Esther, die ihr Kleid noch immer nicht ausziehen wollte, in das kalte Bett, stopfte die Decke so gut es ging fest, sah einen Moment mit neuem Blick auf das Familienbild, das zusammen mit der Menora auf dem Nachttisch stand, schloss die Tür hinter sich und lief zurück, um aus dem anderen Bett die Wärmflaschen zu holen. Hans hatte sich mit angewinkelten Beinen aufs Bett gesetzt, das Bündel vor sich auf den Oberschenkeln. »Sieh nur«, sagte er. Er hielt seine beiden Riesenfinger ausgestreckt, und die winzigen Händchen klammerten sich herum. Sie sah den Blick, mit dem er auf seinen Sohn schaute. Das Baby lag mit geschlossenen Augen da und machte leise, meckernde Geräusche. Von Zeit zu Zeit schob sich eine kleine Zunge grazil hervor. Marjorie ging zurück ins Wohnzimmer, füllte die Wärmflaschen mit heißem Wasser aus dem Kessel, schraubte sie gut zu und steckte sie danach zwischen die Decken zu Esther, die mit dem Gesicht zur Wand dalag und immer noch mit den
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