Brautflug
sagte sie immer wieder. »Du musst es viel langsamer angehen«, sagte Marjorie, »du musst Kräfte sparen.« Mittags hatte sie vorsichtig versucht, sich ein Butterbrot zu machen, aber Esther, die in dem Moment eine Wehe hatte und auf Händen und Knien durch den Wohnwagen kroch und dabei löwenähnliche Geräusche von sich gab, raunte ihr zu, dass sie sich mit ihrem Butterbrot zum Teufel scheren solle. Weg mit dem Essensgeruch. Daraufhin hatte Marjorie das Brot schnell in den Schrank zurückgestopft. Obwohl ihr der Magen knurrte, verspürte sie keinen wirklichen Hunger. Nach jeder Wehe kontrollierte sie das kleine Herz. Manchmal wollte Esther, dass sie kräftig gegen ihren unteren Rücken drückte, damit sie den Schmerz weniger spürte. Ansonsten sprachen sie kaum, ließen die Zeit verstreichen. Draußen konnte man nicht die Hand vor Augen sehen, es schneite einfach weiter. Hans war noch immer nicht zurück. Das stand so nicht im Plan. Marjorie, die seit ihrer Operation nicht mehr in der Kirche gewesen war, sendete unaufhörlich Stoßgebete zum Himmel.
»Wie lange dauert es noch?«, stöhnte Esther Stunden später. Sie lehnte auf ihre Hände gestützt an dem lauwarmen Ofen, während Marjorie hinter ihr stand und ihr über den Rücken rieb. Sie hatten ihre Jacken an, ihr Atem hinterließ kleine Wolken. Ich muss nachher versuchen, den Ofen anzubekommen, dachte Marjorie, das Kind darf nicht frieren. »Wenn ich dich untersuchen darf«, sagte sie, »dann weiß ich, wie weit du offen bist.« Die nächste Wehe kündigte sich an.
Über der Matratze des großen Bettes lag eine Gummiunterlage. Darüber die Handtücher. Es war mitten in der Nacht. Esther lag stöhnend auf der Seite und hielt die Kürze, mit der die Wehen aufeinanderfolgten, nicht mehr aus. Sie geriet in Panik, verlor die Kontrolle. Sie brüllte, zutiefst beleidigt über den Verlust des Verfügungsrechts über ihren Körper und fassungslos über so viel Schmerz. Sie schnappte kurz und schnell nach Luft und geriet in Atemnot. Marjorie, innerlich starr vor Angst, saß auf dem Rand des Bettes und gab in autoritärem Tonfall kurze, ruhige Anweisungen, wie sie es bei den Gynäkologen gesehen hatte. »Atmen … atmen …« Hans war nicht nach Hause gekommen. Kein Auto, keine Hilfe in Sicht. Schnee. Es durfte nichts schiefgehen. Lass es nicht schiefgehen.
»Atmen … atmen …«
Unaufhörlich strich sie Esther über den Rücken und sprach ihr dabei leise und ermutigend zu, »versuch loszulassen«, sagte sie, »gib dich dem Schmerz hin, lass dich leiten.« Mit einem nassen Waschlappen betupfte sie das verschwitzte, gequälte Gesicht. Nun dämmerte Esther immer wieder weg. Gefangen in einem rasenden Körper, vom Schmerz benommen, glitt sie in eine andere Welt. Sie klagte in einem Stück, leise und erbärmlich, es klang fast wie Singen, ein halluzinierendes Lied. Marjorie ermutigte sie weiter in ruhigem Ton. »Das machst du gut. Gut so.« Sie wagte es kaum, ihre Augen von dem Körper zu nehmen, in ständiger Angst, Esther würde ihr entgleiten. Und doch gelang es ihr irgendwie, den Ofen zum dritten Mal zum Brennen zu bekommen, die Öllampe zu füllen und die Kerzenständer neu zu bestücken. Sie konnte einen schnellen Schritt vor die Tür setzen, in der Hoffnung, Scheinwerfer eines Autos zu entdecken.
Gegen Morgen dann kam eine Veränderung, als würde Esther erwachen, mit sehr unruhigem Blick fragte sie: »Wo ist Hans?« Das Nest sollte sicher sein, und das war es nicht. Daraufhin richtete sie sich auf: »So, ich hör auf. Ich habe keine Lust mehr.« Die Ankündigung der Presswehen, wusste Marjorie. »Das ist gut«, sagte sie, »mach einfach, was du jetzt für richtig hältst.«
Die Presswehen dauerten lange. Marjorie fragte sich, wie lange Presswehen dauern durften. Esther lag breitbeinig in den Kissen, und Marjorie kniete vor ihr auf dem Bett und drückte bei jeder Wehe kräftig ihre Unterschenkel nach hinten. Das Blut, der Geruch, die Berührung, all die Intimität, sie merkten es nicht mehr. Und doch saßen die Pumps noch an Esthers Füßen, der Büstenhalter durfte nicht ausgezogen werden und auch nicht das Kleid, das nun bis über die Achseln hochgeschoben war.
Vielleicht dauerten die Presswehen zu lange. Wie sehr Marjorie sich auch anstrengte, einen klaren Gedanken zu fassen, sie wusste es nicht mehr. Sie wusste nicht mehr, wann genau es zu lange wäre und was genau sie dann tun sollte. Sie sah sich im Dunklen über das riesige, unbeleuchtete
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