Brautflug
aufgehen würde. Zu Marjories Ärger trug sie bis zum Schluss weiter hohe Absätze, die auf dem harten Boden ein hölzernes Geräusch machten. Auf flachen Schuhen falle ich um, erklärte sie. Das war nach Marjories Ansicht völliger Unsinn. Sie hätte genauso gut Pantoffeln tragen können, so wie sie.
Es gab auch Tage, an denen Esther in düsteres Grübeln verfiel. Dann wurde Marjorie gereizt von dem griesgrämigen Gesicht ihr gegenüber. Um nicht ununterbrochen in Zankerei zu verfallen, stürzte sie sich auf die Briefe an zu Hause, in denen noch nicht gelogen, aber bereits viel verschwiegen wurde.
Juni 1954 . Lieber Pa, liebe Ma. Hier ist alles gut. Hans und ich haben den Wohnwagen nun ganz nach unserem Geschmack eingerichtet. Draußen hat der Winter begonnen, aber hier drinnen schnurrt der Kachelofen lustig und verbreitet herrliche Wärme. Es ist einfach wunderbar hier! Wir leben zu zweit wie Abenteurer in der Wildnis. Natürlich ist so ein Wohnwagen nur eine Übergangslösung, und wahrscheinlich werden wir bald schon wieder umziehen. Hans hat sich für einen Job im Norden beworben. Wir wollen gerne mehr von unserem neuen Vaterland kennenlernen, und das Klima dort soll sehr angenehm sein!
Der Allesbrenner zog nicht richtig an. Das Holz war feucht. Wenn sie es warm haben wollten, füllte sich der Wohnwagen mit Rauch, und es brannte ihnen in den Augen und im Hals. Dann öffneten sie die Fenster ein Stück weit und fingen schnell wieder an zu frieren. Sie zogen so viele Pullover übereinander wie möglich. Zwei Meter von dem Ofen entfernt sahen sie ihren Atem in kleinen Wölkchen aufsteigen. Esther schnitt die Finger ihrer Handschuhe ab und stickte weiter. Marjorie langweilte sich und studierte die Freundin. Sie wurde neugierig, was es mit Esthers Hintergrund auf sich hatte, des Kindes wegen, aber aus Esther war nichts herauszukriegen. »Nichts Besonderes«, war das Einzige, was sie erwiderte, »alle Schneidermeister. Strenge Lehrmeister, ich habe mit der Hand auf Löschpapier sticken gelernt. Wenn es riss, musste ich direkt wieder von vorn anfangen.«
Dabei blieb es. Marjorie wollte nicht zu aufdringlich erscheinen. Solange das Kind in Esthers Bauch war, war nichts gewiss, und sie konnte keine Ansprüche stellen. Selbst das kleine Herz zu hören brachte ihr das Kind nicht näher. Daher stand sie verärgert auf und kochte unter großem Lärmaufwand die soundsovielte Kanne Tee. Sie fühlte sich abgewiesen. Wo sie doch schließlich zweimal mit Hans in die Stadt gefahren war, um einen größeren Büstenhalter zu kaufen. Für meine Freundin, hatte sie der Verkäuferin erklärt, sie hat eine schwierige Schwangerschaft und darf nicht aufstehen. Ich tue alles für sie, dafür sind Freundinnen ja schließlich da. Die Verkäuferin lobte sie in höchsten Tönen.
Die Abende, wenn Hans zu Hause war, waren einfacher. Er brachte neben den Einkäufen, die sie bestellt hatte, frischen Wind herein. Esther und sie bereiteten abwechselnd Mahlzeiten auf dem Petroleumkocher und lauschten dabei seinen Erzählungen aus der Welt dort draußen. Sie lachten über seine Witze. Marjorie spürte weiterhin eine leichte Verärgerung, Esther bemühte sich um Hans, lachte laut und heiser und gestikulierte übertrieben. Außerdem hatte sie keinen Appetit und legte ihre Gabel schon nach drei Bissen mit einem angeekelten Gesicht nieder, ohne ein Wort der Anerkennung. Und es wurde nicht besser, als sich herausstellte, dass sie anscheinend unter zu hohem Blutdruck litt und daher salzfrei für sie gekocht werden musste. Ein bisschen Dankbarkeit wäre durchaus angebracht, fand Marjorie, schließlich lebte sie von
ihrem
Geld. Aber sie versuchte, die Ärgernisse mannhaft zu ertragen, und es gelang ihr immer wieder, Esther gegenüber milde gestimmt zu sein. Was half, war das Bewusstsein, dass sie ihnen so viel Vertrauen schenkte und wusste, dass das Kind bei ihnen gut aufgehoben sein würde. Das war schließlich nicht zu unterschätzen. Ihr wurde ganz warm ums Herz, wenn sie daran dachte. Ach ja, und oft hatten sie doch auch eine Menge Spaß zu dritt. Es kam ihnen dann so vor, als hätte die Zeit stillgestanden und sie würden noch in dem Zimmer mit den Teerosen wohnen, allerdings ohne Leon.
Sie fragten sich, wie es ihm wohl ginge.
Esther erzählte, dass sie sich schuldig gefühlt hatte. Er hatte es wirklich nicht verdient, in den Fluss geschubst zu werden. Sie hatte ihm einen langen Brief mit Entschuldigungen geschrieben, aber es war nie eine
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