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Brautflug

Brautflug

Titel: Brautflug Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marieke Pol
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grauer Raubvogel in der Luft, der zum Sturzflug ansetzte. Er hatte ein winziges Tier in seinen Klauen, seinem Schicksal hoffnungslos ausgeliefert.
    Der Mann zeigte auf die Sträucher, mit denen die Hügel bedeckt waren.
Bloody weed
, sagte er, ein hartnäckiges Unkraut, dass englische Siedler im letzten Jahrhundert mitgebracht hatten. Im Frühjahr trug es gelbe Blüten, den Rest des Jahres über war es jedoch eine Plage. Wenn man es seinem Schicksal überließ, überwucherte es in
no time
das ganze Land.
    Der Mann lispelte ein wenig und hatte einen starken Akzent. Ada verstand ihn nicht. Sie lächelte höflich. Den gelben Schal hatte sie unter ihrem Kinn gekreuzt und dann nach hinten gezogen, wo er im Nacken geknotet war, genau wie bei Audrey Hepburn. Sie fühlte sich beengt. Vornehm zog sie an ihrer Zigarette und schluckte den Husten herunter.
    Als die Berge höher und steiler wurden, verschwand der Zug im dicken, feuchten Nebel, und sie hatte keine Lust mehr, aus dem Fenster zu starren. Sie schloss die Augen und dachte an die Reise hierher, vor langer Zeit, in der Transportkiste seines alten Fords. Ihr Mitreisender wollte sie nicht in Ruhe lassen. Ob sie wusste, dass der Mount Alexander fast so hoch war wie der Mount Everest?
    Im Nebel gewann die erste Stimme in ihrem Kopf. Natürlich konnte sie nicht einfach weglaufen. Es ist die Pflicht der Frau, den Frieden in ihrem Haus zu erhalten. Der reinste Irrsinn. Ada lehnte die neue Zigarette ab, die der Mann anbot. Hier, mit einigem Abstand, begann sie allmählich wieder, Derk zu lieben.
    Mitten auf dem Arthur’s Pass hielt der Zug an einem kleinen Bahnhof an. Der Mann verließ das Abteil, zu ihrer Erleichterung. Sie sah, wie er eine hochschwangere Frau begrüßte und dann mit ihr zusammen zu einer Häusersiedlung am Fuße des Hügels lief. Sie nahm sich vor, ebenfalls schnell wieder nach Hause zu fahren.
    Kurze Zeit später kam der Zug an einem einsamen Haus vorbei, mitten auf dem Feld. Eine Frau mit Schürze stand davor und winkte lange dem Zug hinterher. Komisch, dachte Ada, irgendjemand im Zug weiß, dass er gemeint ist. Das muss ein schönes Gefühl sein, ihm wird liebevoll nachgewinkt. Er kann froh darüber sein.
    Dann wurden die Berge niedriger, es ging nach unten, und die Wolken brachen hervor. Allmählich wurde Ada bewusst, dass sie der Sonne und der Wärme entgegenfuhr. Von Zeit zu Zeit sah sie ihr Spiegelbild in der Scheibe, das Gelb ihres Schals, mit dem sie die scheußlichen Fransen verdeckte, und sie erinnerte sich an die vergangene Nacht. In ihrem Geldbeutel steckte das Geld für den Zufahrtsweg.
    Ich bin beim Friseur, stand auf den Zettel gekritzelt, den sie Derk hinterlassen hatte. Und danach hatte sie in Anführungszeichen gesetzt: Es kann eine Woche dauern.
    Von Springfield an fiel die Landschaft noch weiter ab. Sie sah Hecken, Bäume und Häusergruppen vorbeisausen. Je weiter sich der Zug Christchurch näherte, umso schöner wurde das Licht. Breite Sonnenstreifen fielen in das Abteil, und die Temperatur im Zug stieg an. Es dauerte eine Weile, bis sie es merkte. Ada zog die Jacke aus. Zu gerne hätte sie den Schal abgenommen, doch das wagte sie nicht. Eine leichte, städtische Aufregung überkam sie. Die zweite Stimme übernahm die Oberhand. Ganz ruhig, ich komme ja zurück, aber ich brauche einfach mal eine kurze Auszeit, es ist an der Zeit.
    In Christchurch setzte sie ihre Sonnenbrille auf. Etwas schüchtern wanderte sie mit der Jacke über dem Arm durch die belebten Straßen der Innenstadt und versuchte, sich selbst zu beruhigen: Erst würde sie einen Damenfriseur suchen und danach ein Hotel. Morgen früh würde sie zurückfahren, sodass sie die Kinder von der Schule abholen könnte. Schöne Läden hatten sie hier. Vielleicht sollten sie bald einmal alle zusammen herfahren.
     
    Alles in dem Friseursalon war lila. Der Geruch passte dazu. Und dann kam der schreckliche Moment, als sie den Schal abnehmen musste. »Nun, my dear«, sagte die Friseuse, die sich als Ann vorgestellt hatte,
just like our princess
(eure meinst du wohl, dachte Ada), »lassen Sie sich Zeit, aber irgendwie müssen wir natürlich weiterkommen.« Als sie dann voller Scham den Schal ablegte, hielten einen Moment lang die Scheren aller Friseure in der Luft inne. Alle starrten erschreckt auf die Fransen. Auch unter den Trockenhauben drehten sich die erhitzten Köpfe in ihre Richtung. Die Friseuse wich einen Schritt zurück. Ada gab ein paar eigenartige Laute von sich, meine

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