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Brautflug

Brautflug

Titel: Brautflug Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marieke Pol
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die selbst ernannte Elite von Wellington. Die meisten von ihnen werden gar nicht verstehen, worum es geht, aber dennoch wollen sie in der ersten Reihe sitzen und dabei gewesen sein. Live-Musik, zischte sie Rits zu, sieh zu, dass du irgendwo eine Jazzband auftreibst. Als er etwas von Budget sagte, versetzte sie ihm einen Klaps, worüber sie selbst vielmehr erschrak als er. Ich tue Dinge, die einfach nicht normal sind, was ist nur los? Sie stolperte mit tiefen Ringen unter den Augen herum und steckte überall ihre Nase hinein, nichts konnte sie den anderen überlassen. Lage für Lage setzte sie mit den Näherinnen das Brautkleid zusammen, jede Lage steckte voller komplizierter Details. Jetzt, rief sie, und zu viert schnitten sie den meterbreiten Organza. Ihre Hände rochen nach Öl, und das Kleid danach ebenfalls.
    Den Mannequins, die meistens Freundinnen und Nichten der Schneiderinnen waren, musste alles über Make-up und Frisuren beigebracht werden. Vor allem aber, wie sie mit den Hüften wiegen und die Füße auf übertriebene Weise kreuzweise voreinander setzen sollten, wenn sie über den Laufsteg liefen. Die meisten hatten Angst vor Esther. Sie wussten nicht, wie sie ihre Kreationen tragen sollten, und es gelang ihnen nicht, so zu laufen, wie sie es verlangte. Doch sie gab nicht auf. Kinn hoch, brüllte sie mit tiefer, vollkommen heiser gerauchter Stimme und schob ihre Füße nach vorn, du läufst schließlich nicht auf einer Schafweide, und sie dachte dabei: Vielleicht gehört Knoblauch rein … warum denke ich an Knoblauch? … ich will jetzt nicht an Knoblauch denken. Sie war erschöpft von sich selbst.
    Spät am Abend, wenn ihre sagenhaften Kreationen zum Schutz vor möglichen Katastrophen abgedeckt dahingen, schloss sie die Tür hinter den Schneiderinnen, zog die Gardinen zu und nahm sich vor, dieses Mal wie ein normaler Mensch schlafen zu gehen. Doch es dauerte nie lange, bis sie zu Boden geworfen wurde. Dann kroch sie brüllend, auf Händen und Füßen, in die Küche, zog den Sack Kartoffeln zu sich heran und fing an zu schälen. Sie kam dem Originalrezept immer näher. Erst die Flamme hochdrehen, einen Löffel geraspelte Kartoffeln in das heiße Öl geben, diese ein wenig platt drücken, braten, Flamme etwas niedriger stellen, sodass sie gleichmäßig braun wurden. Umdrehen und auf der anderen Seite das Gleiche. Im Wirbelsturm von herumtobenden Erinnerungen waren ein paar wenige nützliche Dinge ans Licht gekommen: dass Oma Berthi Zwiebeln auf dem Brett schnitt und Petersilie in einen Becher, dass sie schwarzen Pfeffer in einem Mörser mahlte und all das in die Eiermasse knetete.
    Und eines Nachts backte Esther makellose Latkes.
    Der Direktor mit dem französischen Bärtchen war Jude, genau wie die meisten seiner Mitarbeiter. Wer fromm war, konnte an jüdischen Feiertagen frei bekommen, genau wie am Samstag. Das kostete ihn zwar Lohn, aber es war doch ein Vorteil im Vergleich zu anderen Betrieben. Bei Esther zu Hause waren sie nicht fromm. Nur ab und an, wenn es gerade passte.
    Als der Krieg begann, besuchte Esther im ersten Jahr das Gymnasium. Langsam sickerte zu ihr hindurch, dass sie anders war und ihre Anwesenheit nie mehr selbstverständlich sein würde. Im Laufe der Zeit lichtete sich die Klasse. Eines Tages kam ihr Vater leichenblass nach Hause. Die Deutschen hatten einen Verwalter ins Modehaus gesetzt, der die Aufgabe hatte, den Betrieb zu liquidieren. Das hatte der Mann dann auch brav getan. Das Personal war komplett entlassen worden. Das Geschäft wurde geschlossen, dem Direktor wurde strengstens verboten, sich auch nur in der Nähe des Hauses aufzuhalten. Das Gebäude wurde fachgemäß ausgeschlachtet. Das komplette Inventar wurde auf einen Zug geladen und fuhr Richtung Deutschland, auf dem Waggon hing ein Schild: Gute Gaben vom niederländischen Volk.
    Esther musste oft an das Pferd denken. Sie stellte sich vor, wie es im Zugwaggon umfiel und wie sein totes Fell zerriss. Sie hatte Angst, dass es ihm doch wehtun würde. Zu Hause fertigte sie aus alten Lappen und Filzresten mit Schablonen Hüte für Oma Berthi und nähte die obligatorischen Sterne auf all ihre Jacken. Esther war böse und unglücklich. Bei Sallie in der Volksschule saßen die jüdischen Kinder in einem eigenen Klassenzimmer. Sal trat zu Hause stundenlang seinen Fußball gegen den Zaun. Ohne dass sie etwas dagegen tun konnte, richtete sich ihre Unzufriedenheit oft gegen ihn. Trottel, zischte sie, wenn er an ihr vorbeilief,

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