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Brautflug

Brautflug

Titel: Brautflug Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marieke Pol
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hätten es mir beibringen sollen, dachte Esther, anstatt mich mit Sal an die Festtafel zu setzen, wo wir bei brennendem Kerzenschein warteten. Stattdessen matschten sie mit dem Kerzenwachs herum.
    Sie wollte niemanden um Rat fragen. In Wellington gab es bestimmt eine Jewish Community, doch dort wollte sie nicht anklopfen. Jede Nacht versuchte sie es erneut. Sie stand in ihrem Unterkleid in der Küche und backte Latkes, eine Zigarette im Mundwinkel, ein Glas Bourbon griffbereit. Das Fenster weit geöffnet und die Tür verschlossen, da die Kollektion im Atelier nicht nach Fett riechen durfte. Doch das eine Mal schmeckten sie zu fade, das andere Mal zu salzig, dann stand die Flamme zu hoch und die Puffer verbrannten, dann wiederum war die Temperatur zu niedrig, sodass sie nicht braun wurden, pappig waren sie ohnehin.
    Esther entwickelte die Angewohnheit, tagsüber in den unpassendsten Momenten (zum Beispiel mitten in einer chaotischen Probe mit den Mannequins oder in einer Besprechung mit den Männern, die den Laufsteg aufbauen sollten) jemanden zum Laden zu schicken, um kiloweise Kartoffeln und Eier und flaschenweise Öl zu kaufen. Esther wird wahnsinnig, las sie in den Augen der anderen, und das ausgerechnet jetzt. Sie wollte sich entschuldigen und alles erklären, doch stattdessen bekam sie unkontrollierte Wutanfälle. Eines Tages warf sie in einem dieser Anfälle ihren besten Näher vor die Tür. An diesem Abend blickte ihr im Spiegel eine Fremde entgegen. Warum habe ich das getan? Was habe ich getan? Mit mir stimmt etwas nicht. Schnell erhitzte sie das Öl in der Pfanne.
    Beim Experimentieren in finsterster Nacht kam sie zu der Erkenntnis, dass sie die Eier mit der ausgedrückten Masse verquirlen musste. Erst nahm sie zu viele Eier, dann wieder zu wenig. Schließlich kam sie bei zwei Eiern pro Kilo Kartoffeln heraus – zu dem Zeitpunkt waren allerdings bereits einige Nächte vergangen. Gut drücken, Bubele, mach es so trocken wie möglich, dein Brüderchen mag sie gern knusprig. Fieberhaft schälte und raspelte sie ein neues Dutzend Kartoffeln und drückte mit aller Kraft den geraspelten Brei aus dem Sieb heraus, während in ihrem Kopf endlos die immergleichen Bilder der Vergangenheit abgespielt wurden. Von Zeit zu Zeit entwichen ihrem Mund Worte aus dem alten Europa. »Maßnahmen«, sagte sie dann, oder »Massengrab«. Tränen strömten ihr über die Wangen, hingen an ihrer Nase und tropften in das Sieb. Mach weiter, Bubele, er muss noch trockener sein. Wenn die Kartoffeln nicht mehr trockener werden konnten, klebte sie sich saubere Pflaster auf die geschundenen Knöchel und goss eine neue Lage Öl in die Pfanne.
    Das gesamte Modehaus war unterkellert, dieser Keller hatte verschiedene Abteilungen. Es war heiß hier, dunstig und furchtbar laut. Das kam durch die Kessel der zentralen Dampfheizung. Wahre Ungetüme waren das, mit schmalen, hohen Holzstegen dazwischen, über die der Heizer mit seiner kohlebeladenen Schubkarre lief, die er in die Maschinen schütten musste. Sal konnte sich nicht daran sattsehen, und ihrem Vater schien es genauso zu gehen. Sie gingen zu einem Mann mit einem weißen Haarflaum auf dem Kopf, der der Oberheizer war, was so viel bedeutete, dass er alle dreckigen Arbeiten dem Heizer überlassen konnte und ein eigenes Zimmer besaß, in dem all die Gerätschaften aufbewahrt wurden, mit denen Reparaturen an der Maschine ausgeführt wurden. Er war ein redseliger Mann, der seinen Spaß an Sallie hatte und ihm Holzblöcke und einen Hammer und Nägel gab, damit er zimmern konnte. Lass ihn doch kurz, Bubele, sagte ihr Vater zu Esther, so oft kommt ihr ja schließlich nicht hierher. Nein, dachte sie, und das ist auch gut so. Doch sie traute sich nicht, das so zu sagen, denn sie wusste, dass es albern war, weil sie so viel älter war und Sallie noch klein. Daher musste sie es immer wieder aufs Neue ertragen, dass sie viel mehr Zeit im Keller verbrachten als oben in den Ateliers. Neulich hatten wir ein Leck, erzählte der Oberheizer ihrem Vater an dem Tag, von dem man erst später wusste, dass es der letzte sein würde, wir hatten ein Leck in der Hauptleitung, glühend heißer Dampf kam heraus, lebensgefährlich.
    Tagsüber stieg die Spannung merklich. Die Einladungen waren fast alle ausgefüllt zurückgeschickt worden. Rits, der für die Post verantwortlich war, zeigte sie ihr. Es würde einen riesigen Ansturm geben, sie mussten Stühle mieten. Da kommen sie also, dachte Esther. Die wichtigen Leute,

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