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Brautflug

Brautflug

Titel: Brautflug Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marieke Pol
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nicht möglich und zudem unerwünscht. Esther sah ihm nach, bis er aus ihrem Blickfeld verschwunden war und die Erinnerung an die eine Nacht in Christchurch, ihren Spaziergang entlang des Avon und das Hotelbett danach, aus ihrem Körper herausströmte. Dann senkte sich eine schwere Klaue in ihren Nacken. Kaltes Morgenlicht strömte durch den Laden, die Schaufensterpuppen grinsten sie an, wo ist der kleine Junge? Sie wusste, dass sie der Raubtiere nicht länger Herr werden könnte. Im Schlafzimmer zog sie mit einem Ruck die Gardinen auf, Rits wimmerte entrüstet auf. Von nun an schlafe ich allein, sagte sie und stellte das Familienbild und das Foto von Sal direkt vor die Menora auf den Nachttisch.
    Wenn es nach ihr ginge, dann blieben sie so lange wie möglich in der Damenabteilung. Am liebsten würde sie sich unsichtbar machen, damit sie ungesehen durch die Ateliers schweifen konnte, zwischen den Ankleidepuppen hindurch, die die Namen der Stammkunden trugen, und zwischen den hohen Schneidetischen mit Stoffmusterteilen, Scheren und Kreide, und zwischen den Schneidern, die mit Stecknadeln im Mund vor den Damen knieten, die ihre zukünftigen Abendkleider anprobierten. Das alles erregte ihre Phantasie: die intimen, fast geflüsterten Gespräche über Abnäher und Hüftlinien, die schnellen, flüchtigen Gesten, mit denen winzige Stofffetzen von dem dicken Teppich gepflückt wurden. Ein noch unfertiges, rotseidenes Galakleid – festgesteckt auf einer einsamen Ankleidepuppe –, an dem gerade niemand arbeitete, an dem Esther heimlich mit den Fingern entlang der schrägen Plissierarbeit streichen konnte, die Wandschränke mit den Vorräten: glänzende Futterstoffe, Garnrollen in allen Farben, Besatz und Borte, Knöpfe, Federn, Perlen und Pailletten, Schleifen und endlos lange Spitze, um Papprollen gewickelt. Esther konnte sich nicht beherrschen, und wenn niemand sie beachtete, wickelte sie die breiten Satinbänder um Handgelenk und Handrücken, rieb sich damit sanft über ihre Nase und entwarf dabei im Kopf Prinzessinnenkleider. Einmal wurde sie beim Träumen von dem Direktor mit dem französischen Bärtchen erwischt. Esther erschrak, doch er war nicht böse und fragte sie nach ihren Interessen. Das Modefach, erklärte er ihr, kannst du eigentlich nicht lernen. Es ist ein Gefühl, dass du in den Fingern haben musst, es ist dir angeboren. Esther sah auf ihre langen, schmalen Finger und sprach in der Stille einen feurigen Wunsch aus. Du musst spüren, was Frauen wollen, erklärte der Herr weiter. Du musst Modegefühl haben. Und Kenntnis der Materialien, ergänzte er. Er führte Sal und sie persönlich an den Stoffen entlang (»die Meterwaren«, wie er sie nannte) und erklärte, dass die Seide aus Lyon kam und die Wolle aus Paris. Sal zeigte nicht das geringste Interesse, doch in ihrer elfjährigen Seele entbrannte eine große Liebe, und ihr Wunsch wurde zum Versprechen. Esthers Vater bedankte sich so überschwänglich beim Direktor, dass sie sich ein bisschen für ihn schämte. Und für das alberne Gezeter und Gezerre von Sal schämte sie sich noch mehr.
    Vom Unglückstag in Rotorua an ging alles schief. Panisch versuchte sie, die Leute im Atelier so lange wie irgend möglich zu beschäftigen, sie ließ sie weißseidene Eisblumen sticken. Doch jeden Abend kam irgendwann der Moment, in dem der letzte müde Schneider ihr einen guten Abend wünschte und die Salontür hinter sich zuzog. Sich normal zu verabreden war für sie nicht mehr möglich, unter keinen Umständen konnte sie unbesonnen und geistreich sein. Sie schloss die schwere Ladentür ab und stieg die Treppe hoch in ihre Wohnung, doch schon auf halbem Wege rissen messerscharfe Krallen tiefe Furchen in die Wunden der Nacht zuvor. Esther schlief nicht, rastlos flog sie durch den Käfig. Um nicht in der Einsamkeit der Nacht zu ertrinken, musste sie etwas tun.
    Sie beschloss, Latkes für das Kind zu backen.
    Kartoffellatkes sollten es werden, wie Oma Berthi sie zu Chanukka backte. Das Problem war, dass Esther kein Rezept hatte, da nichts Handschriftliches überlebt hatte. Sie musste sie aus der Erinnerung heraus machen. Dass man die Kartoffeln schälte, raspelte und die Masse durchs Sieb drückte, war ihr noch präsent, weil sie dabei oft genug mitgeholfen hatte. Tüchtig drücken, Bubele, sonst haben sie zu viel Stärke, und dann werden sie pappig, das mag dein Bruder nicht. Danach verschwamm ihre Erinnerung, etwas mit Eiern, ich hätte besser aufpassen müssen. Sie

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