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Brautflug

Brautflug

Titel: Brautflug Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marieke Pol
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kleiner Trottel. Wenn er im Bett lag, erzählte sie ihm schauerliche Geschichten, und er machte sich nachts in die Hose. Am Tisch konnte sie das mahlende Geräusch der Kiefer ihrer Eltern nicht ertragen, und Oma Berthi, wie lieb sie auch war, hatte lange schwarze Haare am Kinn. Zitternd nahm Esther sich vor, jeden in diesem Haus weit hinter sich zurückzulassen. Dann dachte sie an den Direktor mit dem französischen Bärtchen. In dem Winter, in dem Sal zehn Jahre alt werden würde, sagte ihr Vater, dass sie sich vielleicht doch lieber verstecken sollten. Doch es war schon zu spät.
    »Warte kurz hier«, sagte sie zu Rits an der Straßenecke, »ich bin gleich zurück.« Eigentlich konnte sie nicht mehr und wollte sich am liebsten in einem Korb unter den Tisch legen und für immer dort bleiben. Er schaltete den Motor des Morris ab und seufzte tief, weil er keine Ahnung hatte, was sie in Khandallah Village machten, wenn sie doch in Kürze unten im Zentrum eine prestigeträchtige Modenschau hatten. Doch sie ignorierte seine Seufzer, stieg auf wackligen Beinen mit ihrer dampfenden Tasche aus dem Auto und fing an zu laufen. Was hab ich bloß für Schuhe an, man trägt doch keine roten Pumps, wenn man auf Krankenbesuch geht? Beängstigend, dass so etwas ihrer Aufmerksamkeit entgangen war. Die Straße stieg schräg an, und auf beiden Seiten standen große Holzhäuser in dicht bewachsenen Gärten. Eine Sekunde lang berührte sie das Liebliche und Beruhigende dieser Gegend, und sie fühlte ein vages Gefühl von Neid in sich aufsteigen, ohne zu wissen, warum. Üppige Rosen über dem weißen Zaun des Hauses, das musste es sein. Sie machte sich auf das Schlimmste gefasst und stieß das Tor auf, gefasst auf Feindschaft oder auf vollkommene Verweigerung. So schlimm kam es nicht, denn Hans stand auf der Leiter und lackierte eine Fensterbank. Er schien aufrichtig erfreut zu sein, sie zu sehen. »Esther!« Er kletterte von der Leiter herunter und wischte sich die Hände an einem Tuch ab. Marjorie war beim Blumenbinder. Bobby lag oben im Bett. »Wie geht es ihm?«, fragte sie. »Gut … besser … ach, Kinder, sie genesen so schnell. Er wird schon ordentlich zappelig. Noch eine Woche, denke ich, und dann läuft er wieder herum. Seinen Arm kann er noch nicht ganz bewegen, die Haut spannt noch zu sehr von den Brandwunden. Das wird noch etwas dauern, sagt der Doktor. Wir machen Übungen mit ihm. Aber es wird wieder gut, es wird alles gut. Und wie geht es dir?«
    Sie gratulierte ihm zu dem Haus. Sein freundliches Gesicht fing an zu strahlen, und er klopfte mit der Hand an die blauen Balken, so wie man seinem Lieblingspferd über die Flanken streichelt. »Wir sind noch immer nicht fertig«, erklärte er, »hinten will ich noch den Wintergarten vergrößern.« Sie gratulierte ihm nochmals. Dann erst traute sie sich zu fragen. »Darf ich Bobby einen Moment sehen?«
    Sie bemerkte sein Zögern und dachte: Marjorie hat es verboten. Esther lieber nicht, hat sie gesagt. Sie hob ihre Tasche an. »Nur ein kleines Geschenk bringen, ich habe ziemlich viel zu tun, bin auch gleich wieder weg.« Er wischte weiter seine Hände an dem fleckigen Tuch ab. Sie würden davon nicht sauberer werden.
     
    Ein Jungenzimmer, mit Rugbyhelden an der Wand. Bobby saß im Schlafanzug aufrecht im Bett, Arm und Oberkörper waren verbunden. Um sich herum Comicbücher. Die Latkes waren leider kalt geworden, doch sie schmeckten ihm trotzdem, und er fragte sogar, ob er noch einen haben dürfte. »Nimm nur«, sagte Esther, »sie sind für dich. Dafür sind sie doch da.« In der Zwischenzeit zog sie den Kerzenständer aus ihrer Tasche. Esther hörte, wie Hans draußen die Leiter ein Stück weiterrückte. Sie schob einen Becher Limonade und einen Comic zur Seite und stellte den Kerzenleuchter auf den Nachttisch.
    »Was ist das?«
    »Für dich«, sagte sie. »Du darfst ihn nie wegstellen. Das ist eine Menora.« Sie setzte sich auf die Bettkante und zog die Kerzen aus der Tasche. »Acht Kerzen für acht Tage«, erklärte sie, »mit der neunten kannst du die anderen acht anstecken, sie gehört in die Mitte.« Er nickte, aß mit Appetit seinen zweiten Latkes, Krümel in den Mundwinkeln, Krümel im Bett. »Ich werde eine Narbe haben«, sagte er stolz. Sie fragte sich, ob er gehört hatte, was sie sagte. Eine nach der anderen zündete sie bebend die Kerzen der Menora an.
    »An Chanukka zündet man acht Tage lang jeden Tag eine weitere Kerze an, bis der ganze Leuchter brennt.

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